Wie halten wir es mit Impfmuffeln?

Hierzulande wollen etwa 40 Prozent der Bürger nicht geimpft werden. Dafür haben sie Gründe. Gründe unterschiedlicher Logik und Qualität, häufig misstrauensinduziert. Ob zu Recht, ist hier nicht zu diskutieren - für diese Bürger ist es sinnvoll, sich zu verweigern.

Das sieht die Politik anders. Modellannahmen legen nahe, dass eine höhere Immunität notwendig sein könnte, um die Pandemie rasch zu beenden. Deshalb, so die Diktion, müsse man die Impfmuffel vor sich selbst schützen. Mehr noch: die individuelle Freiheit bedrohe die kollektive Verantwortung. Deshalb müsse man auch alle anderen schützen - jene, die durch Impfverweigerer möglicherweise geschädigt würden. Entsprechend fragt die Politik: „Wie motivieren wir die Leute dazu, sich impfen zu lassen?“ Genauer: „Wie schaffen wir es, dass möglichst viele Bürger etwas tun, was sie aus sich heraus nicht tun wollen?“

Grundsätzlich gibt es dafür drei Strategien: Zwingen, Überzeugen, Anreizen. Ein Impfzwang müsste mit massivem Widerstand rechnen. Zudem ist wahrscheinlich, dass er juristisch anfechtbar wäre. Besser also: Überzeugen - mit rationalen Argumenten aufklären, emotionalen Appellen werben und Rollenmodellen beeinflussen. Das kann man tun, hat aber einen beschränkten Wirkungsgrad. Wer um Vertrauen wirbt, kommuniziert immer mit, dass es berechtigte Gründe für Misstrauen gibt – sonst müsste er nicht werben.

Bleiben die sechs Worte jener Strategie, mit der viele Eltern ihre Kinder erziehen, Chefs ihre Mitarbeiter motivieren oder Hundebesitzer ihre Vierbeiner abrichten: „Tue dies, dann bekommst du das!“ Also Anreizen, negativ oder positiv. Negative Anreize drohen mit Ausschluss, Wegfall einer Belohnung oder gar Bestrafung: Wer sich nicht impfen lässt, dessen Freiheit wird beschränkt; er wird nicht zu öffentlichen Veranstaltungen zugelassen, darf nicht fliegen, nicht reisen. Das wird überwiegend ablehnend kommentiert. Man spricht vom „Impfzwang durch die Hintertür“ oder betont, dass private Anbieter den Zugang zu ihren Angeboten grundsätzlich frei regeln können.

Freundlicher kommt das „Belohnen“ daher, der positive Anreiz. In diesem Fall: Menschen bezahlen, wenn sie sich impfen lassen. Das kann man noch sprachlich umwölken, etwa „Kompensieren“ nennen – weil man ja eine Art „Impf-Leid“ (Zeit, Schmerz, Nebenwirkungen) auf sich nimmt. Beträge zwischen 50 Euro in Deutschland und 1000 Dollar in den USA sind im Gespräch.

Ob das funktioniert, darüber gehen die Meinungen auseinander. Aber auch wenn sich tatsächlich die Impfbereitschaft erhöhte – niemand darf glauben, es bliebe folgenlos für unsere gesamtgesellschaftliche Verfasstheit.

Zunächst ist da die auffällige Respektlosigkeit gegenüber dem Souverän, genauer: jener Bürger, die die Meinung und Absichten der Politik nicht teilen. Das sind die Verblendeten - nobelpreisdekoriert könnte man sie die „beschränkt Rationalen“ nennen. Wie Kinder wissen sie nicht, was gut für sie ist, verkennen ihre „wahren“ Interessen. Deshalb darf man sie als Objekte administrativer Manipulation behandeln. Im Grunde als Material.   

Sodann: „Tue dies, dann bekommst Du das“ konzentriert die Menschen auf „das“ statt auf „dies“. Belohnungs-Sucht ist die Folge. Die Verhaltensbiologie hat einleuchtend dargetan, dass sich der Mensch schnell an eine Belohnung gewöhnt, er also bald ohne „Zusatz“-Reiz eine unteroptimale Handlungsbereitschaft zeigt: „Ohne Extra-Cash läuft hier gar nichts!“ So könnte auch die Impfbereitschaft gegen andere Krankheiten sinken, wenn dafür kein Geld fließt. Grundsätzlich gilt: Jede Prämie wird zur Rente, zu einem selbstverständlich erwarteten Finanzvorteil. Häufig mit Steigerungstendenz: Das Spiel verliert mit jeder neuen Runde; immer höhere Reizniveaus sind die Konsequenz.

Weitreichender noch sind die Wirkungen auf unser Selbstbild, auf unsere Autonomie. Erscheint uns eine Handlung vernünftig, so werden wir sie ausführen; erscheint sie uns unvernünftig, so unterlassen wir sie. Finanzielle Anreize unterlaufen das an der Sache orientierte Nutzenkalkül und ersetzen es durch einen sachfremden Vorteil. Sie verbiegen mithin das Handeln zu einem „unnatürlichen“ Verhalten. Das Wollen wird zum Sollen, der Mensch zum Reiz-Reaktions-Automat. Wir tun nicht mehr das, was wir für sinnvoll halten, sondern was belohnt wird – auch wenn es der größte Unfug ist.

Das öffnet uns für alle Formen der Fremdsteuerung: Die Prämie zerstört den eigendefinierten Sinn und ersetzt ihn durch einen fremddefinierten. Was wertvoll ist, entscheiden andere. Wir erleben uns mehr und mehr als Erfüllungsgehilfen fremder Absichten, entwickeln entsprechende Umgehungs- oder Ausbeutungsenergien. Man denke nur an die Verrenkungen zur legalen Steuervermeidung. Letztlich verlieren wir unsere Würde. Und schaut man sich an, wie die so geprägten Menschen unsere Zivilgesellschaft mitgestalten, dann verwandelt diese Mechanik eine Verpflichtungsgesellschaft in eine Verführungsgesellschaft. Zum Lenkungsinteresse „von oben“ gesellt sich die Verwöhnungsforderung „von unten“.

„Als wir den Sinn unseres Handelns nicht mehr sahen, begannen wir über Motivation zu reden.“ Dieser alte Satz der Motivationspsychologie ist an Tiefe und Reichweite kaum zu überbieten. Motivierung über positive Anreize ist die strukturelle Einweihung in Sinnlosigkeit: zunächst Sinn-Zerstörung, dann Sinn-Ersatz. Motiviert also Belohnung? Absolut! Belohnung motiviert, belohnt zu werden.

Haben wir nichts aus der Finanzkrise 2007/08 gelernt? Auch da hantierte man mit Boni, auch da plante man Gutes („Nation of Homeowners“). Erst köderte die amerikanische Politik die Notenbank, dann die Notenbank die Geschäftsbanken, dann die Geschäftsbanken ihre Kundenberater. Bezahlt hat die Zeche der Steuerzahler. Bezahlt mit ihrem Leben haben die „falso positivos“, die etwa 6400 kolumbianischen Zivilisten, die zwischen 2002 und 2008 von Militärs als feindliche Guerillakämpfer ausgegeben und getötet wurden, weil man damit Quoten erfüllen und Prämien abgreifen konnte. Mit ihrer Gesundheit zahlen jene Mitarbeiter eines grossen Online-Händlers, die krank zur Arbeit gehen, weil es einen „Platin-Bonus“ gibt, wenn der Krankenstand insgesamt unter 4 Prozent liegt. Disparate Fälle? Gute Absichten, schlechte Konsequenzen.

Die Wissenschaft nennt das „Verdrängungs-Effekt“ oder „moral hazard“. Warum aber schliesst sich nicht die Kluft zwischen dem, was Wissenschaft weiss und was Politik tut? Erstens: Weil Wissenschaft ein anderes System ist als die Politik, entsprechend einer anderen Logik folgt. Wissenschaft kann sagen, was „der Fall“ ist. Was daraus politisch folgt, ist in der Demokratie ein Abwägungsprozess, der unterschiedliche Interessen berücksichtigt. Eines dieser Interessen ist:  Politiker wollen gewählt werden. Deshalb regiert dort die politische Vernunft, nicht die wissenschaftliche. Zweitens: Weil politische Führung oft verstanden wird als Mikromanagement auf der Basis eines misstrauischen Menschenbildes. Man erinnere Hillary Clintons „We can’t expect our people doing the right choices“. Drittens: Weil Gänse nicht für Osterfeste votieren: Solange Bürger eine Geldquelle ausbeuten können, werden sie das tun. OPM: Other peoples money! Es ist unwahrscheinlich, mit etwas aufzuhören, wenn ein finanzieller Vorteil davon abhängt, es nicht zu hören.

Was also tun gegen Impfmuffel? So wie unsere Demokratie institutionell gebaut ist, wäre bei wissenschaftlicher Evidenz der Impf-Zwang konsequent. Wollen wir den vermeiden, ist der negative Anreiz vorzuziehen, weil seine Spät- und Nebenfolgen für die mentale Verfasstheit der Bürger sich in Grenzen halten. So kann man individuelle Interessen davor schützen, kollektiven Interessen geopfert zu werden. Denn spätestens, wenn alle Bürger ein Impfangebot hätten annehmen können, bedrohen Impfverweigerer nur Impfverweigerer. Dann sollte man die freiwilligen Selbstzerstörer ehren. Bis zu diesem Zeitpunkt also könnten für sie Freiheitseinschränkungen gelten. Die Geimpften aber sollten ihre Freiheitsrechte wieder als Selbstverständlichkeit genießen können. Nicht als Gnade.

Die Wissenschaft nennt das „Verdrängungs-Effekt“ oder „moral hazard“. Warum aber schließt sich nicht die Kluft zwischen dem, was Wissenschaft weiß und was Politik tut? Erstens: Politiker wollen gewählt werden. Deshalb regiert in der Politik die politische Vernunft, nicht die wissenschaftliche. Zweitens: Weil politische Führung oft verstanden wird als Mikromanagement auf der Basis eines misstrauischen Menschenbildes. Drittens: Solange Bürger eine Geldquelle ausbeuten können, werden sie das tun. Es ist unwahrscheinlich, mit etwas aufzuhören, wenn ein finanzieller Vorteil davon abhängt, es nicht zu hören.

Was also tun gegen Impfmuffel? So wie unsere Demokratie institutionell gebaut ist, wäre bei wissenschaftlicher Evidenz der Impf-Zwang konsequent. Wollen wir den vermeiden, ist der negative Anreiz vorzuziehen, weil seine Spät- und Nebenfolgen für die mentale Verfasstheit der Bürger sich in Grenzen halten. So kann man individuelle Interessen davor schützen, kollektiven Interessen geopfert zu werden. Denn spätestens, wenn alle Bürger ein Impfangebot hätten annehmen können, bedrohen Impfverweigerer nur Impfverweigerer. Dann sollte man die freiwilligen Selbstzerstörer ehren. Bis zu diesem Zeitpunkt also könnten für sie Freiheitseinschränkungen gelten. Die Geimpften aber sollten ihre Freiheitsrechte wieder als Selbstverständlichkeit genießen können. Nicht als Gnade.

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