Unternehmen generieren Toleranz

Unternehmen generieren Toleranz

Sie klingt sympathisch und beinhaltet die Vorentscheidung für etwas Gutes: Toleranz. Übersetzt etwa: Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Kein Problem, sollte man meinen – wenn man mit diesen Menschen nichts zu tun hat; solange uns andere mit ihren Spleens, Marotten und Überzeugungen nicht in die Quere kommen, müssen wir uns weder aufregen noch nachsichtig sein. Was aber, wenn uns das bizarre Sagen und Handeln nicht egal ist? Wenn es uns nervt, gegen den Strich geht, gar zuwider ist? Dann wird's ironisch: „Bei mir kann jeder tun und lassen, was ich will." Hätten wir jedenfalls gerne. Vor allem für Einäugige ist Toleranz der Schwächeanfall des Einzigrichtigen. Wer dagegen Toleranz als Tugend in den Ring wirft, meint es wohl etwa so: Ertragen, wogegen man ist; Ja sagen, obwohl man innerlich Nein meint. Toleranz ist dann ein Knüppel-aus-dem-Sack der Selbstdisziplinierung. Und schon springen einem die Ambivalenzen des Gegenstandes auf den Tisch.

Die beginnen schon bei der Inkonsistenz des Wortes. Welche Toleranz ist gemeint? Gegenüber allem und jedem? Gegenüber dem Anderssein des Anderen? Frustrationstoleranz? Null-Fehler-Toleranz? Ambiguitätstoleranz? Was meint die Intoleranzkompensationstoleranz, die Odo Marquard einst postulierte? Und ist der Tolerierende nicht immer gleichzeitig auch der Tolerierte? Goethe hielt Toleranz gar für minderwertig: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen." Im Ernst jetzt? Müssen wir nicht unterscheiden dürfen zwischen dem, was wir tatsächlich befürworten, und dem, was wir erdulden? Paul Feyerabends «homerischer Mensch», der jeden Eklektizismus duldet, alle möglichen Götter Seite an Seite leben lässt, «ohne einen Versuch zur Beseitigung von Widersprüchen» - können wir mit dem leben? Auch die Logik wird strapaziert: Bezogen auf Intoleranz soll man tolerant sein. Wo bleibt da der Respekt vor dem Nicht-Mitmachen? Etliche Moralisten predigen Toleranz, verteilen jedoch Ohrfeigen, wenn jemand nicht im Gleichschritt der Toleranz marschiert. Sie folgen dem Schicksal vieler fortschrittlicher Ideen, die irgendwann genauso autoritär werden wie jene Ideen, gegen die sie Widerstand leisten. Man sieht: Toleranz ist kein Wert an sich. Sie kann bereichern und gefährden. Toleranz ist facettenreich und normativ janusköpfig. Und daher eines nicht: prinzipiell «gut».

Mehr noch: Wie alle Werte, so steht auch die Toleranz in Spannung zu anderen Werten, die ebenso gültig sind. Gleich-gültig. Wertekonflikte sind daher unvermeidbar. Zwischen Intoleranz und Egal-Haltung gilt es die Waage zu halten, Dulden darf nicht in Beleidigen kippen, Schutz nicht in Gönnerhaftigkeit. Es ist sogar zu prüfen, wann Intoleranz gegenüber der Toleranz gerechtfertigt ist. Oder Toleranz gegenüber der Intoleranz. Entsprechend ist Toleranz eine Gleichgewichtsdisziplin. Im Balancieren – nicht in der Balance! - liegt die Kunst des Miteinanderauskommens. Nur Extreme sind zu meiden – etwa, wenn ein humaner Universalismus verletzt wird, also die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens eklatant infrage gestellt werden. Aber was heisst schon «eklatant» unter wertpluralen Bedingungen?

Das legt die Frage nahe, was es uns erleichtert, tolerant zu sein. Die Antwort: Wenn wir gute Gründe haben, es zu sein! Weil wir beispielsweise ein Problem lösen wollen, das wir nur zusammen mit anderen lösen können. Wobei wir beim Unternehmen wären. Unternehmen sind um die Idee der Zusammenarbeit herum gebaut, Unternehmen sind Kooperations-Arenen. Erstrangige Aufgabe von Führung ist es daher, diesen Wesenskern zu sichern: Zusammenarbeit herbei zu „führen". Verbinden, um zu stärken – darum geht es.

Unterstellt man in der individualistischen Moderne eine breite Varianz der Verhaltensweisen und Mentalitäten, dann ist der Toleranzbedarf moderner Unternehmen hoch, im Zeitalter globaler Arbeitsmärkte sogar extrem hoch. Alle Unternehmen ab einer gewissen Größe sind daher – wie man heute sagt – «divers» – so divers, dass es manchem schon «zu bunt» wird. Vieles ergibt sich nicht mehr aus Tradition und Selbstverständlichkeit, sondern muss geregelt werden, wenn man nicht dauernd verhandeln will. Das führt dazu, dass Unternehmensstrukturen endlos erweitert und differenziert werden, um zusätzlichen Sonderinteressen gerecht zu werden (Transaktionskosten!). Studien zeigen zudem, dass Unternehmen deshalb nicht schneller werden, sondern langsamer; Meetings und Abstimmungsprozesse dauern länger. Auch das Vertrauen in Institutionen und Arbeitskollegen sinkt, wenn Organisationen kulturell und ethnisch sich vielfältigen. Sogar das Mitgefühl flacht ab. So gelingt es etlichen Kaleidoskop-Unternehmen kaum noch, vor lauter individualisierten Lebensentwürfen Solidarenergien zu entwickeln. Was tun?

Die meisten Unternehmen investieren in die sogenannte «Unternehmenskultur», appellieren an «Teamgeist», erlassen Werte-Fibeln und Führungsgrundsätze, die das Handeln der Akteure prägen sollen. Dort finden sich die üblichen Worthülsen: Respekt, Anerkennung, Dialog, Akzeptanz, Gleichberechtigung, Inklusion – alles schwache und starke Wortfeldpartner von Toleranz. Das geht bisweilen in strenge regulatorische Vorgaben, die einer firmeninternen Antidiskriminierungs-Gesetzgebung gleichkommen. Im Regelfall inszeniert sich so eine Man-hat-etwas-getan-Symbolpolitik, die gerade mit ihren versteckten Grundbotschaften den zu Schützenden schadet («Du bist zu schwach, um es alleine zu schaffen!»). In ihrer negativsten Spitze verhindern Toleranz-Proklamationen klare Auseinandersetzungen um den besten Weg zum Unternehmenserfolg. Da wird geschmust, nicht gestritten, da wird weichgespült, nichts kommt zur Schärfe. Unter dem noblen Vorsatz der Toleranz riskiert man die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.

Diese Hilfslosigkeit muss man nicht gleich als Flucht aus der Kontingenz in die Moralisierung verwerfen. Aber es bleiben doch vergebliche Versuche, die letztlich einem sozialen Relativierungswunsch geschuldet sind – und nicht selten als Zynismusgeneratoren die Verkraftenskraft von Mitarbeitern überdehnen. Vielmehr muss sich das Gefühl, einer leistungspartnerschaftlichen Kooperationsarena anzugehören, aus psychoorganisatorischen Bedingungen entwickeln, in denen starke Meinungen, Unterschiede und Widersprüche nicht mit aufgekratzter Tugendradikalität in harmonische Übereinstimmung gezwungen werden. In denen die unterschiedlichsten Wertvorstellungen, Erfahrungen und Anderswelten nicht nur nebeneinander existieren können, sondern für den Unternehmenserfolg genutzt werden, ja geradezu überlebenswichtig sind.  

Demzufolge lautet die pragmatische Frage einer Führung, die Toleranz ermöglichen will: Wie präsentiere ich eine Aufgabe so, dass sie zur Zusammenarbeit einlädt? Wie gestalte ich eine Situation, die wechselseitiges Respektieren wahrscheinlich macht - von Alt und Jung, Vollzeitangestellten und Teilzeitarbeitern, politisch Rechts- oder Linksdrehenden, Vertrieblern und Kostenrechnern, Innendienst und Aussendienst, Zentrale und Dezentrale, Kreativen und Traditionalisten?

Die grundsätzlichste Antwort gibt uns die Anthropologie: Was uns wirklich und auf natürliche Weise zusammenführt, das sind gemeinsame Probleme. Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können - auch wenn wir sie als «Herausforderung» oder «Ziele» etikettieren. Mit Blick auf die Problemlösung sind wir wechselseitig abhängig. Und Toleranz erwächst aus der Verständigung darüber. In einem gemeinsamen Problem können wir sogar mit unserem nervigsten Zeitgenossen verbunden sein. Warum? Weil wir ihn brauchen, um das Problem zu lösen. Wirklich brauchen im Wortsinn, weil er not-wendig ist, weil da eine Not zu wenden ist. Wenn klar ist: Ohne den anderen geht es nicht. Deshalb müssen wir ihn nicht mögen, aber doch so sorgsam und respektvoll mit ihm umgehen, dass wir uns nicht selbst schwächen. Denn nur unter der Bedingung eines gemeinsamen Problems fallen Toleranz und Egoismus zusammen - auf natürliche, nicht-moralisierende Weise! Dann ist die für Toleranz vorausgesetzte und überall angemahnte Selbstdistanz überflüssig.

Wir feiern unsere Intoleranzen also nur, wenn wir kein gemeinsames Problem lösen müssen, wenn es dem Management nicht gelingt, ein Problem als gemeinsames Problem zu präsentieren. Dann sind wir nicht zwanglos gezwungen, tolerant zu sein.

Jedoch - wessen Problem? Als Vegetarier kann man sich zwar wünschen, dass auch die Kollegen Gemüse essen, aber man darf in der Logik der Toleranz nicht wollen, dass Fleisch in der Kantine verboten ist. Und überlebenswichtig ist dieses Problem kaum. Die obige Frage lässt sich zwingender beantworten, wenn wir uns des Wesens des Unternehmens erinnern, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen: Unternehmen erzeugen Güter und Dienstleistungen für Menschen ausserhalb des Unternehmens. Für Kunden. Deshalb müssen wir das Unternehmen vom Kunden her, von aussen nach innen denken. Nicht umgekehrt – wie es meistens der Fall ist. Denn wer Kunden hat, hat auch Probleme. Die Probleme der Kunden. Das ist dann das Geheimnis langfristigen Erfolges: Die Kunden-Probleme sich immer wieder neu zu eigen zu machen – und damit niemals zur Lösung zu werden. Niemals von der Lösung her denken! Das wäre Firmen-Autismus. Nur wenn wir den vermeiden, wenn wir also all unser Denken und Tun von aussen nach innen denken, hat das harmonisierende Kraft, schafft das grundsätzliche Verbundenheit, können wir differente Sichtweisen nicht nur tolerieren, sondern aktiv einbeziehen und nutzen. Auch wenn sie uns falsch erscheinen, aber ebenso begründet sind wie unsere eigenen. Toleranz entspringt aus dieser Unentbehrlichkeit von Gründen und Gegengründen. Als Mitarbeiter verbinden wir uns in unserer Verschiedenheit mit Blick auf die Lebensqualität des Kunden. So können wir mindestens wahrnehmen, dass die eigenen Überzeugungen nicht so stark sind, dass der andere seine Position aufgeben müsste. Wir können aufhören, uns wechselseitig zu missionieren. Wir müssen die anderen nicht überzeugen. Toleranz reicht.

Das gemeinsame Problem vom Kunden her denken und so die Bedingung der Möglichkeit von Toleranz verbessern – das ist daher Organisations- und Kommunikationsaufgabe der Führung. Das heißt: Zurück zu den Wurzeln des Unternehmens! Zurück zum Kunden! Das ist der einzige Wert, um den sich ein Unternehmen zu kümmern hat. Denn alles, was aus der Wurzel wächst, hat Kraft; alles, was vom Ziel gezogen wird, bleibt schwach. Ein am Kunden orientiertes Unternehmen sollte mithin noch erheblich mehr Verschiedenheit verkraften, als unter Globalisierungsbedingungen gegenwärtig aufbricht. Aus dieser Sicht können Unternehmen nicht nur wichtige Toleranz-Generatoren für die Gesellschaft sein, es sind die wichtigsten Toleranz-Generatoren.

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