Über den "Mythos Motivation"

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Mit über 1,8 Millionen verkauften Büchern und Beratungsmandaten in sämtlichen DAX-Unternehmen gilt Reinhard
K. Sprenger (68) als profiliertester Führungsexperte Deutschlands. Zum 30-Jahre-Jubiläum seines ManagementKlassikers „Mythos Motivation“ erklärt der promovierte Philosoph im Interview, warum sich ein guter Manager überflüssig machen soll und warum Führung häufig „das Problem ist, für dessen Lösung es sich hält.“

Herr Sprenger, lassen Sie uns mit Zitaten von Ihnen beginnen? Sie schreiben: „Ein guter Manager macht sich überflüssig“ …
Führung zur Selbstführung ist die einzig legitime Aufgabe der Führung. Ihre wahre Funktion ist weniger das Unterrichten, vielmehr das Aufrichten. Insofern, und das ist mir wichtig, ist Führung immer Hin-Führung zur Freiheit. Ziel muss es sein, eine Gruppe von Mitarbeitern so zusammenzustellen und zu entwickeln, dass sie möglichst ohne Führung auskommt. Für einen einzelnen Mitarbeiter gilt dasselbe. Das bedeutet nichts anderes, als sich als Führungskraft klug und angemessen zurückzuziehen. Wir brauchen keine raumfüllende Führungskräfte, sondern raumöffnende.

Und: „Leistungsbereitschaft kann man eigentlich nur behindern.“ Wie bitte?
Die Verhaltensforschung sagt uns seit Jahrzehnten, dass jeder Mensch ein großes Aktionspotenzial hat, das nach Entfaltung drängt. Eine kreative Energie, die abgebaut werden will, soll sie nicht in aggressive Langeweile umschlagen. Uns alle verbindet das, was die Forscher „Funktionslust“ nennen: Wir planen etwas, machen etwas, erhalten ein wahrnehmbares Ergebnis. Und die „Neugieraktivität“: Wir erproben etwas, gestalten etwas, variieren etwas eigenständig. Deshalb gilt: Jeder Mensch ist leistungsbereit. Niemand will einen schlechten Job machen. Was im Umkehrschluss heißt, dass man Leistungsbereitschaft nur hemmen kann. Das kann durch schlechte Führung geschehen, aber auch durch unpassende Strukturen im Unternehmen. Kluge Menschen haben in dummen Organisationen keine Chance. Sagen Sie deshalb, dass alles Motivieren eigentlich Demotivieren ist? Jedes Drehen an der Motivationsschraube hat Spät- und Nebenwirkungen. Kurzfristig mag man Strohfeuer-Motivationen erzeugen. Langfristig aber zerstört jedes von außen kommende Anreizen die von innen kommenden Gründe etwas zu tun oder nicht zu tun. „Tue dies, dann bekommst du das“ fokussiert Menschen auf „das“, und nicht mehr auf „dies“. Das ist die systematische Zerstörung von Sinn. Schon bald tun Menschen nicht mehr das, was sie für sinnvoll halten, sondern das, was belohnt wird. Man kann also sagen: Was landläufig als Motivierung verstanden wird, ist nichts weniger als die Verführung zur inneren Kündigung. Deshalb gibt es unter Mitarbeitern so viele Jammerzirkel. Manche Unternehmen sind reine Opferklubs.

Die fünf großen „B“ – belohnen, belobigen, bestechen, bedrohen, bestrafen – sind alle nichts, warum?
Diese Grammatik der Motivierung wurde erfunden, um die beobachtete oder nur behauptete Lücke zwischen tatsächlicher und möglicher Leistungsbereitschaft zu schließen. Denn nur um die geht es, die Motivation, die Leistungs-Bereitschaft. Aber wir bezahlen Mitarbeiter nicht für ihre Motivation, sondern für Leistung. Die beiden anderen Dimensionen von Leistung – die Leistungs-Fähigkeit und die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung, die Leistungs-Möglichkeit – bleiben von der Investition in die Motivation völlig unberührt. Falls die Ursachen für Leistungseinbrüche und Demotivation hier zu suchen sind, blaken die Ampeln der Motivierung ins Leere. Der Mitarbeiter werde oft zynisch gesehen, „von Motivationsmechanikern missverstanden als Reiz-Reaktions-Maschine“. Wie ist das zu verstehen? Wer mit Incentives – aber auch „Nudges“ – Menschen zum Handeln drängt, macht sie zu Reiz-Reaktions-Automaten. Er versucht erst gar nicht, sachlich zu informieren und von einem bestimmten Handeln zu überzeugen. Anstatt auf Argumentation und klare Absprache setzt er auf Verführung. Für die Freiheit autonom handelnder Erwachsener ist in diesem Denken kein Platz. Diese Haltung behandelt Menschen daher nicht als mündig, sondern als Objekte administrativer Manipulation. Im Grunde als Material.

Sie unterscheiden zwei Grundtypen: Den Erfolgssucher – und den Misserfolgsvermeider, was ist der eine, was der andere? Und welchen Typus findet man in den Unternehmen öfter?
Der Erfolgssucher sieht die Chancen, die Möglichkeiten. Er sieht nicht Wände, sondern Türen. Er kalkuliert zwar auch Risiken, aber wägt sie ab. Grundsätzlich hat er eine unternehmerische Disposition. Der Misserfolgsvermeider hingegen spielt Angsthasenfussball. Sein Programm ist Sicherheit: „Um zu gewinnen, darf man nicht verlieren.“ Er kalkuliert nicht datenbasierte Risiken, sondern sieht überall Gefahren. Und er fürchtet, dass er sich rechtfertigen muss. Deshalb findet sich dieser Typus in Unternehmen öfter. Leider. Denn wir sollten die Menschen nicht für ihre Konformität ehren, sondern für ihre Initiative.

Und das ist ein Satz, bei dem vermutlich viele Chefs schlucken müssen: „Den größten demotivierenden Einfluss auf Mitarbeiter übt der direkte Vorgesetzte aus.“
Ja, das ist statistisch der Fall. Menschen kommen halt zu Unternehmen, aber sie verlassen Führungskräfte. Das heißt: Sie werden angezogen auf der Makroebene von der Attraktivität des Unternehmens und der Aufgabe. Abgestoßen werden sie aber von Problemen auf der Mikroebene – meist ein Beziehungsproblem mit dem Chef. Führung ist daher häufig das Problem, für dessen Lösung es sich hält.

Laut Ihnen stören sich Mitarbeiter an: Pedanterie. Mangelnder Glaubwürdigkeit. Und vor allem an: Nicht-Zutrauen.
1807 fielen bemerkenswerte Worte: Es gelte „alles zu entfernen, was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maß seiner Kräfte zu erreichen fähig war.“ Erlassen hatte das der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III., geschrieben hatte es der Freiherr vom Stein. Letzterer
war es auch, dem der Satz zugeschrieben wird: „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hindert sein Reifen.“
Und genau das kennen wir doch auch: Wenn wir Mitarbeiter für unselbstständig halten, werden sie es sein. Denn die Erwartung niedriger Leistung ruft sie hervor. Die Wissenschaft nennt das den „Pygmalion-Effekt“. Positiv gewendet: Man kann den Menschen zu Höherem provozieren – indem man ihn von Erniedrigendem verschont.

Sie haben – in einem Thema-Vorarlberg-Interview 2016 – Unternehmen geraten, Mitarbeiter nicht wie Kinder zu behandeln, sondern ihnen, im Gegenteil, viel mehr Vertrauen zu schenken. Hat die Pandemie an der Situation da etwas geändert?
Die Pandemie hat die Infantilisierung von Erwachsenen eher verstärkt. Im Grund ließen wir uns behandeln wie Bio-Klumpen, die vor sich hin stoffwechseln. Das nackte Leben aber hat mit aufrechtem Gang und selbstverantwortlichem, erwachsenen Umgang mit Risiken nichts zu tun. Aber für die Unternehmen darf ich hoffen, dass die guten Erfahrungen mit dem Home Office das alte Vertrauensproblem gelöst haben. „Arbeiten die Mitarbeiter auch, wenn sie unbeobachtet werden?“ – das fragt hoffentlich niemand mehr. Was nicht heißt, dass man Home Office zur Regel machen sollte. Es sollte die Ausnahme bleiben, sonst löst sich das Unternehmen als Kooperationsarena auf.

Wenn aber alles motivieren zugleich demotivieren ist: Was ist dann gute Führung?
Das weiß ich nicht. Und es interessiert mich auch nicht besonders. Weil ich die Leitunterscheidung „gut/schlecht“ für irreführend halte. Ich bevorzuge „erfolgreich/nicht erfolgreich“. Wegen guter Führung wird man allenfalls als dem Knast entlassen.

Sie treten für den Dialog ein, die dialogische Führung …
Ja, das ist aber keine Sozialapostelei, sondern das Instrument einer an Produktivität orientierten Führung. Wenn wir das Beispiel der Unternehmensziele nehmen, dann wissen wir: Zielvorgaben funktionieren nicht, sie schaffen keine Verbindlichkeit. Ziele müssen das Ergebnis gemeinsam erarbeiteter Einsicht sein. Sie kommt zustande durch ein Gegenstrom-Verfahren. Die daraus resultierenden Vereinbarungen entfalten dementsprechend nur dann ihre bindende Kraft, wenn sie niemanden zum Verlierer machen. Zudem sind nur solche Vereinbarungen zu verantworten und entsprechend einklagbar, wenn sie wirklich dialogisch zusammengetragen wurden. Also nicht Ziele setzen, sondern klären. Lauschen wir unserer Sprache: In der „Verantwortung“ steckt das Wort „antworten“; wie soll ich etwas ver-antworten, wenn ich gar nicht gefragt wurde?

Und doch wird im Zweifel Altes beibehalten, Neues vermieden.
Das ist in Teilen ja auch berechtigt. Bruchhaftes Vorgehen ist selten intelligent. Aber die meisten Unternehmen scheitern nicht, weil sie etwas falsch gemacht haben, sondern weil sie etwas Richtiges zu lange gemacht haben. Nichts ist bedrohlicher für den Erfolg von morgen als der Erfolg von gestern.

Vielen Dank für das Gespräch!


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