Pandemie des schlechten Gewissens

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„Falls du glaubst, dass du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.“ Ein tibetisches Sinnbild. Es lässt sich übertragen auf die Gegenwartsdebatten, die von minoritären Interpretationseliten beherrscht werden. Diese Minderheiten kommen richtungspolitisch von rechts oder von links, begründen sich mit Identität oder Religion oder Nation oder Menschenrechten, mit Hautfarbe, Rasse oder Geschlecht, mit Werten, Natur oder Sprache. Bekenntnisvirtuos belehren sie die Mehrheit darüber, welchen Partikularinteressen nunmehr allgemeine Geltung zu verschaffen sei und was man sagen oder tun darf. Und was nicht. Die Fähigkeit dieser ebenso lautstarken wie zum Teil winzigen Minderheiten, der Restgesellschaft ihre Denk- und Sprechmuster aufzuzwingen, ist aufmerksamkeitsökonomisch so erfolgreich, dass sie sogar zur „gefühlten“ Mehrheit wird.

Voraussetzung für diese Aufmerksamkeit ist nicht Leistung, sondern Benachteiligung. Dafür wir die Welt eingeteilt in Opfer und Täter. Um zum Opferklub zu gehören, muss man nicht diskriminiert werden, es reicht, sich diskriminiert zu fühlen oder sich moralisch zu mandatierten, im Namen von Opfern zu sprechen. Historisches oder strukturelles Unrecht wird dramatisiert, weil nur das Zugang zu den großmedialen Sprachrohren garantiert, die wiederum das Wertverständnis der Gesellschaft neu organisieren. Aus dieser Opferposition fordert man Rettung oder Wiedergutmachung.

Um die kulturkämpferischen Anspruchskollektive milde zu stimmen, wedeln die angeblichen Täter mit Tugenden. In den Verlautbarungen der Wirtschaft wabert es nur so von Gemeinwohl, Nachhaltigkeit, Werten, Ökologie und Verantwortung. Unternehmen gründen sich neu als Naturschutzbünde und vermarkten ihre Produkte als den moralisch besseren Konsum: Wer ein Bier kauft, rettet den Regenwald. Im Vordergrund steht nicht mehr unternehmerisch generierte Wertschöpfung für Kunden, sondern der Kampf gegen Kinderarbeit, Kolonialismus und Klimawandel. Selbst Banken werben mit einem „nachhaltigen“ Konto (was immer das sei). Immer mehr Kleinkollektive (Ethnien, Religionen, Geschlecht) entschädigt man für „strukturelle Benachteiligung“ durch Zwangsrepräsentation; aber natürlich nur dort, wo Geld oder Macht winken. Man gendert die Sprache bis zur Unverstehbarkeit und bewirbt das subventionierte Elektroauto als fahrbare Sittlichkeitsproklamation. Zu den Reinwaschungen gehört auch die Forderung, „systemrelevante“ Berufe nicht nur zu beklatschen, sondern auch besser zu bezahlen. Wir nicken versonnen.

Warum aber lässt sich eine Mehrheit derart kujonieren? Woher diese Unterwerfungsbereitschaft? Nun, zunächst ist Widerspruch gegen das vermeintlich Gute ungehörig; man empört sich nicht gegen Empörungswellen. Wer ist schon gegen Minderheitenschutz? Schürft man aber tiefer, dann stößt man auf eine sozialpsychologische Mechanik: Die Minorität hat ein gutes Gewissen, die Majorität ein schlechtes. Die Selbstgewissheit alter Mehrheiten hatte sich zum schlechten Gewissen gewandelt. Das lässt sich ausbeuten.

Schon länger lebt das Alltagsbewusstsein in opaken Konfliktlagen. Deren Kausalketten verlaufen nicht im Sand, sondern haben eine feste Adresse: Sie landen bei einem selbst! Unsere bare Existenz ist der Sündenfall! Entsprechend haben viele Menschen das Gefühl, irgendwie „verkehrt“ zu leben. Der 11. September, den der islamistische Terror mit unserer Gottlosigkeit begründet, der Beinahe-Crash des Finanzkapitalismus, der unserer Gier und unserem Konsumismus zu danken ist, die Weltverhüllung in einen CO2-Nebel, der unseren Produktionsmethoden, unserem Häuserbau und Rindfleischkonsum sowie dem Trockenlegen der Moore zu danken ist, das Abschmelzen der Gletscher, der Polkappen, der Tod der Arten und der Regenwälder, das Plastik im Meer, die Armutswanderungen, die alle unserem Überfluss zu danken sind, wir fahren immer noch Verbrennungsmotoren, fliegen immer noch in Urlaub, duschen immer noch zu lange, kaufen immer noch billige Lebensmittel, erfreuen uns ultraniedriger Kleidungspreise, die der Kinderarbeit in Vorderasien zu danken sind. Männer lassen sich zu Quotendeppen machen, weil es ja auch irgendwie in Ordnung ist, für Jahrtausende patriarchalischer Herrschaft zu büssen. Mehr noch: Klimasünde „Kind“ - hat Mutter Erde nicht schon genug Kinder? Das alles vergrößert durch die Lupe der Schweiz, die ohnehin schon immer die Weltgeschichte ausgebeutet hat.

Die Party war wohl doch zu extrem. Deshalb ist die Mehrheit, die Zulanggekommenen, bereit zur Schuldübernahme. Man schaut auf die Verluste, nicht auf die Gewinne, und träumt von der Idylle einer achtsam-authentischen Existenz, von edlen Wilden und gnädiger Natur, von einer Alternative ohne Kollateralschäden, von einem Leben ohne Verlierer, von mehr Gleichheit, die man Gerechtigkeit nennt. Man akzeptiert moralbasierte Rechtsbeugung, Reglementierungslust und Gegendiskriminierungswut, nimmt die politisch korrekte Vergemeinschaftung des Denkens, Fühlens und Sprechens hin, unterschlägt vernünftige Aussagen und abgewogene Urteile, wenn sie „den Falschen“ in die Hände spielen könnten. Der Bambi-Effekt der politischen Theorie, für den das Kleine und Minderheitliche als besonders schützenswert gilt, sorgt jedenfalls dafür, dass mancher sich fühlt wie ein Fremder im eigenen Land - so, als müsste sich die Mehrheit der Minderheit anpassen.

Warum aber triumphiert das schlechte Gewissen über das Wissen? Warum ersetzt das schlechte Gewissen die Vernunft? Leuchten wir noch etwas tiefer und betrachten den intrapsychischen Handel, die hier getrieben wird.

Menschen sind Gleichgewichts-Wesen. Sie können nicht lange in einer belastenden seelischen Situation leben. Sie müssen sich innerlich ausgleichen. Wenn jemand zum Beispiel die klare Forderung spürt, etwas nicht zu tun, es aber dennoch tut, dann gibt er das schlechte Gewissen gleichsam „in Zahlung“. Das können Schuldgefühle sein, Selbstbezichtigungen bis hin zum Selbsthass. Dadurch wird die Soll-Seite des eigentlich Richtigen mit der Haben-Seite des schlechten Gewissens verrechnet. „Es geht mir ja auch nicht gut dabei!“ Danach fühlt man sich wieder einigermassen balanciert.

Das hat eine weitgehend unbewusste Funktion: Ein schlechtes Gewissen erlaubt das Weitermachen. Das ist sein kleines, schmutziges Geheimnis. Es sagt: „Ich werde es wieder tun.“ Es ist ein intrapsychisches Wechselgeld, das man gleichsam zahlt, um alles beim Alten zu lassen - obwohl man weiß, dass man es lassen sollte, es aber dennoch tut: „Mea culpa! Mea maxima culpa!“ Etwa wenn Öko-Delegierte mit schlechtem Gewissen von einer Umweltkonferenz zur nächsten fliegen. Oder Übergewichtige mit schlechtem Gewissen Kuchenberge vertilgen. Oder Golfer mit schlechtem Gewissen auf Wüstenplätzen spielen, die täglich ungeheure Wassermengen saugen. In gleicher Weise konnte mancher, der für die Konzernverantwortungsinitiative stimmte, sich selbst und anderen vorgaukeln, man habe etwas Hochmoralisches getan. Dabei war es nur kostenlos.

Diese Mechanik macht das Büsserhemd zum Outfit der Moderne. Ein Triumph des Konjunktivs: „Man sollte ja eigentlich nicht …“ Eine mentale Befriedungstechnik wie der Sündenbock, den man rituell schlachtet, um sich zu reinigen – aber in der Sache selbst nichts tun zu müssen. Deshalb ist das schlechte Gewissen zu unterscheiden von der tätigen Reue. Wenn jemand etwas wirklich bereut, dann lässt er es zukünftig.

Aber schlechtes Gewissen ist auch lästig - die grassierende Angst der Mehrheit, Spass an den falschen Sachen zu haben. Deshalb wird es gerne externalisiert, als Moralisierungsdruck: Man sieht den Splitter im Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen. Wehe, der andere tut was, was ich auch gerne täte, mir aber nicht erlaube! Dann lautet die Parole: Wenn ich mir was verkneife, dann hast du dir das auch zu verkneifen! Und wehe, der andere tut etwas hemmungslos und voller Freude, was ich zwar auch tue, aber nur heimlich und mit schlechtem Gewissen. Das drückt mir alle Knöpfe gleichzeitig. Gerne wird dann Scham in Schuld getauscht, Neid in Solidarität umgegossen.

Nichts ist so unerträglich wie die Freiheit des anderen.

Link zum Artikel auf nzz.ch

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