Nachgiebigkeit, die sich als Toleranz tarnt

Nachgiebigkeit, die sich als Toleranz tarnt

Quiet Quitting am Arbeitsplatz wie in der Öffentlichkeit: Der gemeinsame Nenner ist das Verstummen, der leisetreterische Rückzug. Doch wer Streit vermeidet, erntet keineswegs Frieden.

«Dienst nach Vorschrift» hiess es in den 1970er Jahren, «innere Kündigung» in den 1980ern, «freizeitorientierte Schonhaltung» in den 1990ern. Immer entrüstete man sich und rüstete dagegen auf, drohten doch horrende Wohlstandsverluste für die Volkswirtschaft. Heute geistert «Quiet Quitting» durch die Arbeitswelt. Gemeint ist eine Haltung, die den Arbeitseinsatz auf das vertraglich festgelegte Minimum reduziert. Quiet Quitters sind anwesend abwesend, sind zwar da, aber nicht mehr dabei, stimmen problemlos zu, wenn der Chef sagt, dass das Wasser den Berg hinauffliesst, planen einen Stellenwechsel oder gar den Totalausstieg aus der Arbeitswelt. Ihr Motto: «Wer sich bei der Arbeit ein Bein ausreisst, humpelt in der Freizeit.»


Das Harmoniediktat

Diese Einstellung, die die Idee des Unternehmens als Solidargemeinschaft zurückweist, findet
sich vorrangig bei jüngeren Arbeitnehmern. Ihre Gründe sind unterschiedlich. Einige realisieren, durch Pandemie und Ukraine-Krieg noch verstärkt, dass das Leben kurz ist und die Zukunft ungewiss. Sie wollen nicht mehr Geld-reich und Zeit-arm sein, distanzieren sich vom «Leben, um zu arbeiten» der Elterngeneration.

Andere haben genug von übergriffiger Purpose-Motivierung und verwischten Grenzen zwischen Arbeits- und Privatsphäre. Wieder andere beklagen die Verkürzung der Karriereleiter, die einst Individuum und Unternehmen innig verband. Auf den obersten Sprossen, so erleben es vor allem junge Männer, stünden zudem nicht mehr vorrangig Leistungsträger, sondern Merkmalsträger, die sich durch Identität, Herkunft oder Geschlecht auszeichnen. Auch Individualität zähle nicht mehr, nur noch Gruppenzugehörigkeit. Wie im Feudalsystem des Mittelalters. Das alles überformt vom Harmoniediktat und von einer Rhetorik der Alternativlosigkeit. Da protestiert man nicht, hält lieber den Mund, bleibt und schweigt. Man ist buchstäblich sprachlos, streitet nicht mehr darüber, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, sondern geht in die Innenschau: «Was macht das mit mir?» Nicht einmal diese Subjektivismen werden kommuniziert, vielmehr verkapseln sie sich in solipsistischen Blasen. Vor allem aber werden keine Konfliktgespräche mehr geführt. Wie seit Jahren eingeübt durch anonym durchgeführte Mitarbeiterbefragungen. Weshalb sich in Unternehmen nichts ändert.

Quiet Quitting ist jedoch keineswegs nur eine Randerscheinung der Arbeitswelt. Es hat die Gesamtgesellschaft erfasst und ist dort ein Resignationsphänomen der erschöpften Mehrheit. Diese schaut zu, wie winzige Minderheiten laut- und meinungsstark alles Allgemeine und Verallgemeinerbare zurückweisen, um die Gesellschaft nach ihren Sensibilitäten umzubauen. Man winkt nur noch müde ab, wenn Minoritäten den Diskurs dominieren, die ihr So-Sein höher schätzen als das Mit-Sein – und im Namen der Antidiskrimi-
nierung die Alltagsvernunft diskriminieren. Die überall lauernden Tretminen der politischen Korrektheit verunsichern viele Menschen. In einem polarisierten Meinungsklima müssen sie annehmen, dass sie dem Gegenüber auf den Schlips treten. So wird bei bestimmten Themen die Stimme gesenkt, wird hinter vorgehaltener Hand gesprochen, biedert man sich mit «Ganz unter uns . . .» einer Vertraulichkeit an, die offenbar das Tageslicht scheuen muss. «Walking on eggshells» sagt man im Amerikanischen.

Nach einer aktuellen Erhebung sind in Deutschland nur noch 48 Prozent der Bürger der Auffassung, sie könnten ihre Meinung frei äussern; 1990 waren es noch 78 Prozent. So nimmt man hin, dass in den öffentlichrechtlichen Medien die Sprache streberhaft gegendert wird, ohne dass das demokratisch legitimiert wäre. Man duldet, dass Gruppen ihre singulären Ansprüche zur allgemeinen Norm erheben und hoheitlich durchsetzen – auch das reaktionär: die Wiedereinführung des Personalitätsprinzips zulasten des Territorialprinzips, das einst
einheitliches Recht für alle Menschen eines Territoriums gelten liess.

Und man hat sich offenbar auch damit abgefunden, dass in den Schulen woke Übersensibilität gelehrt wird und so eine Generation heranwächst, aus der niemand sich mehr wehrt gegen die apodiktische Gewissheit. Stattdessen verharrt man in achtsamer Introspektion. Quiet Quitting am Arbeitsplatz wie in der Öffentlichkeit: Der gemeinsame Nenner ist das Ver-
stummen, der leisetreterische Rückzug. Die übergroße Mehrheit schweigt, um nicht als gestrig, sexistisch, überheblich oder chauvinistisch aufzufallen. Sie steht am Rand und betrachtet tatenlos das Verrinnen des Wir – der Seinsverdünnung all dessen, was als bürgerlich, üblich und alltagsvernünftig gilt. Erklären lässt sich das durch die «Schweigespirale», die von der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann schon in den 1970er Jahren beschrieben wurde: Es bestehe die Tendenz, sich, um nicht iso-
liert zu werden, mit einer allgemeinen Gestimmtheit zu harmonisieren und – obwohl man die Dinge vielleicht völlig anders sieht – zu schweigen.

Ungute Weltabwendung

Aber ist diese Erklärung hinreichend? Tiefer lotet eine Deutung von nahezu heilsgeschichtlicher Wucht. Sie ergibt sich aus dieser Gewissheit: Alles präsentiert sich im Angesicht der Zukunft, die man erwartet. Jeder Mensch, jede Beziehung, jedes Unternehmen, jede Gesellschaft. Diese Zukunft stellen wir uns normalerweise in aufsteigender Linie vor. Und genau daran fehlt es heute. Die meisten Eltern glauben nicht mehr, dass ihre Kinder «es einmal besser haben» werden – für diesen Pessimismus signalisieren die Forschungen historische Höchststände. Und die Kinder selbst stehen seufzend vor den Vorortvillen ihrer Eltern, im Wissen, dass sie das aus eigener Kraft niemals schaffen werden. Auch gesamtgesellschaftlich sind wir nicht mehr beseelt von einer aus- und aufrichtenden Idee. Die Zukunft ist gleichsam aus der Gesellschaft ausgewandert. Wir wollen nirgendwo mehr hin. Warum soll ich arbeiten, wenn die Welt ohnehin untergeht? Warum soll ich mich für das Gemeinsame einsetzen, wenn niemand mehr das Verbindende sucht, sondern das Trennende gefeiert wird?
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wird Zukunft allenfalls partikular gedacht, nicht gemeinsam, und schon gar nicht optimistisch. Als Folge verliert man wechselseitig das Interesse, schwindet das Gefühl des Gemeinsame-Sache-Machens, bildet sich keine «gefühlte» Solidargemeinschaft. Denn in einen Konflikt investiert man nur in Erwartung eines gemeinsamen Weges. Sonst bleiben offene Feindseligkeit oder kaltes Anschweigen.

Aber Weltabwendung darf keine Option sein. Nichthandeln heißt zustimmen. Deshalb gilt nach wie vor: «Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.» Es nützt aber wenig, allgemein eine «offene Diskussionskultur» zu fordern. Wir müssen uns selbst einbringen, jeder Einzelne, selbst in den Ring steigen, in alltäglichen Situationen für die eigene Sichtweise einstehen, der endzeitlichen Gestimmtheit die Stirn bieten, gegen die übergriffigen Ansprüche der lärmenden Minderheiten aufbegehren. Damit tun sich viele schwer. Sie glauben, am
Leid in der Welt sei der Streit schuld. Wer aber Streit vermeidet, erntet noch lange nicht Frieden. Im Gegenteil: Das wirklich Schlimme richtet eine knochenlose Nachgiebigkeit an, die sich als Toleranz tarnt. Und Verantwortungslosigkeit ist. Wenn wir über Zukunft sprechen, liefert der stets verlässliche Ambrose Bierce (1842–1914) die Stichworte. Zukunft, so schreibt er, sei «jene Zeit, da unsere Geschäfte gedeihen, unsere Freunde treu sind und unser Glück gewiss». Warum soll das nicht weiter möglich sein? Warum sollen wir nicht unterwegs blei-
ben? Das Neue ist ja auch immer möglich!

Wir dürfen sogar davon ausgehen, dass angesichts einer erwartbaren Weltzeit von weiteren 5 Milliarden Jahren die «Letzte Generation» allenfalls die vorletzte sein wird. Und wir haben nicht den geringsten Grund für Quiet Quitting. Der grösste Teil der Welt will uns nachahmen – unseren Wohlstand, unsere Technik und Wissenschaft. Und unsere Freiheit, die die wertvollste aller europäischen Errungenschaften ist und dem Kampf um das bessere Argument die Bühne bietet. Damit wir für die freie Meinungsäusserung nicht mutig sein müssen. Dafür lohnt es sich, zukunftsfroh zu streiten.

 

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