Mein liberaler Liberalismus

Mein liberaler Liberalismus

Ich mag Unentschieden. Nicht nur im Sport, sondern ganz allgemein im Leben. Wir sind ja selten Sieger oder Besiegte, sondern meistens beides. Ein Unentschieden hält die Dinge in der Schwebe, lässt Möglichkeiten offen, ist letztlich aufgespannte Freiheit. Die daraus resultierende soziale Ordnung ist der Liberalismus - das erfolgreichste Gesellschaftsmodell der Geschichte: kulturell, ökonomisch, politisch.

Mein Liberalismus ist jedoch vorrangig eine Denkweise. Diese sattelt auf der Grunderfahrung, dass das Leben voller Widersprüche ist. Widersprüche, die wir alle in uns vereinen, die wir alle in uns spüren: Nur wer nicht spricht, widerspricht sich nicht. Auch in der Aussenwelt müssen wir anerkennen, dass die Dinge unklar sind, mehrdeutig, kontextabhängig. Auf der normativen Ebene nennen wir das „ambivalent“, auf der Erscheinungsebene „kontingent“ – etwas ist möglich, aber nicht sicher. Konkret bedeutet das: Es gibt zu allem einen Alternative; es gibt nichts, was ohne sein Gegenteil auskommt. Auch die hochgelobten Werte sind nur im Doppelpack zu haben: Sie werden immer balanciert durch einen polaren Zwillingswert, der ebenso berechtigt ist. Wie der Fussballtrainer Otto Rehhagel einst sagte: „Man kann nicht langfristig planen und kurzfristig immer verlieren.“

Man braucht eben beides. Verschwiegenheit ebenso wie Offenheit, Entschiedenheit ebenso wie Nachdenklichkeit, Handeln genauso wie Zurückhaltung. Nicht alles in gleichem Masse, nicht jedes am selben Ort, nicht immer zu gleicher Zeit. Aber stets sind die Werte gleich-gültig, sind als grosses UND keineswegs moralisch vorentschieden. Deshalb irrlichtert die oft geforderte „Ambiguitätstoleranz“; sie unterstellt eine falsche Normalität. Meine Toleranz gilt  der Nicht-Ambiguität, der Moralisierung, der Einfalt. Ich übe mich in Eindeutigkeitstoleranz.

Entsprechend fremd ist mir die Tribunalisierung einer bunten Lebenswirklichkeit. Ich interessierte mich für Menschen, wie die Menschen sind; allenfalls noch für Institutionen, wie sie sein könnten. In der Tradition der Aufklärung nehme ich ernst, was sich mit Vernunftgründen rechtfertigen lässt. Und lande damit genau in jenem Dilemma, das Jürgen Habermas beharrlich umging: dass es rational ist, verschiedene Formen von Rationalität anzuerkennen.

Diese Haltung akzeptiert nur wenige Grenzen: Grausamkeit etwa, vor allem die körperliche, ein ebenso rätselhaftes wie uneingeschränktes Übel. Und den gesetzlichen Rahmen - es gibt für diese Vernunft keinen vernünftigen Rechtsbruch, nicht einmal eine moralisch grundierte Rechtsbeugung. Sie ist gekennzeichnet mithin durch die fundamentale Paradoxie, dass ihr Freiheitsbegriff die Freiheitsbeschränkung voraussetzt. Das gilt auch für die Freiheit selbst: Sie meint nicht Unabhängigkeit, sondern die Wahl der Abhängigkeit.

Ist das nun fröhliche Beliebigkeit, das große Egal? Nein, das ist das urbiblische Dilemma. Das ist die Bedingung unserer Freiheit, die uns in die Verantwortung bringt und eine Entscheidung fordert, wollen wir nicht in der Paralyse verharren. Das ist jedoch selten die Entscheidung zwischen Schwarz oder Weiss, selten ein Entweder-oder. Sie entscheidet eher ein Mehr-oder-weniger, auch ein Heute-so-morgen-anders.

Deshalb vermeidet mein Liberalismus das absolutistische „statt“. Er bevorzugt das „vor“. Also nicht Freiheit statt Zwang, sondern Freiheit vor Zwang, das Weite vor dem Engen, das Kleine vor dem Großen, das Dezentrale vor dem Zentralen. Insofern ermutigt er den Eigensinn, weil nur der einen Unterschied macht. Aber er fördert auch den Gemeinsinn, weil es uns nur dann gut geht, wenn es auch anderen gut geht. Natürlich tritt er auf die Seite der Veränderung, wenn das Alte überlebt ist. Aber er argumentiert auch konservativ, wenn etwas erhaltenswert ist.

Dieses Pendeln, das Kompensieren und Einander-ständig-ins-Wort-fallen, erzeugt Dynamik. Stets bereit zur Korrektur, begleitet vom Wissen, dass nichts alternativlos ist. Dass es keine Entscheidung gibt, die man nicht auch anders hätte fällen können. Dass jede Buchung eine Gegenbuchung hat. Dass etwas stärken heisst: etwas schwächen. Daher will ich den Verlierer kennen. Und nennen. Selbst wenn es, eine weitere Paradoxie, die Freiheit selbst ist. Oft resultiert daraus das Lachen, der somatische Reflex der Freiheit. Denn nur die Uneindeutigkeit ist eindeutig. Das bezeichnet auch den Unterschied zum unterkomplexen Tendenzliberalismus, der sich rechts-, links- oder grünliberal neigt. Insofern: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich nur unklar sagen; und worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man sprechen.

Nun wird einem Leben im Widerspruch gerne widersprochen. Das sei doch Opportunismus! Fähnlein im Wind! Wer für nichts steht, fällt für alles! Das Gegenteil ist der Fall. Ein wirklich liberaler Liberalismus nimmt selbstbewusst das lateinische Wort ernst, das in ihm steckt: die Freiheit. Er hält die Alternativen offen. Er verteidigt die Mehrdeutigkeit. Oder, wer es energischer will, kämpft gegen die heute geradezu explodierende Sehnsucht nach dem Ende der Ambivalenz. Damit meine ich nicht vorrangig die Alternativvernichtung durch Regeln, Gesetze und staatliche Bevormundung, sondern eine geistige Haltung, die nicht mehr das Gegenteil anerkennt: Halbfalschheit, Gesinnungsethik, Populismus, das Dröhnen der Moralisierung, Weltanschauung, die nicht die Welt anschaut. Ein so verstandener Liberalismus wendet sich besonders auch gegen jene, die sich zwar liberal nennen, sich unter diesem Etikett aber lediglich ökonomisch oder wahltaktisch selbstoptimieren, nur das herauspicken, was ihnen gerade in den Kram passt und damit den liberalen Wesenskern faktisch dementieren – das Dilemma.

Richtungspolitisch hält er mithin Äquidistanz zu den Ewigkeitsbeteuerungen der Rechten wie zu den Planungsverstiegenheiten der Linken. In deren geschlossenen Weltbildern ist von vorneherein klar, was richtig und falsch ist. Der Blick des Liberalen ist hingegen offen, für ihn gibt es kein Außen (mit Ausnahme der zuvor genannten), er hat einen integrierenden Blick, betont das Verbindende, nicht das Trennende. Er reagiert gelassen auf die Macken und Absonderlichkeiten der Mitmenschen – er weiss, er hat sie auch.

Wenn er pragmatisch danach fragt, was der Augenblick fordert, wird das nicht selten auf einen Kompromiss hinauslaufen. In dieser Konsequenz steht er für eine paradoxe Freiheit, die sich begrenzt, um sie zu sichern. Wenn zum Beispiel der freie Wettbewerb zu Monopolen führt, die den freien Wettbewerb bedrohen (Google als Beispiel), dann ist er bereit, durch Regeln die Freiheit einschränken, um die Freiheit zu erhalten. Auch auf privater Ebene: Wenn ich meine Kinder zu Freiheitswesen erziehen will, stecke ich in dem Dilemma, dass Erziehung die Freiheit begrenzt.

Was sind nun die politischen Konsequenzen einer Haltung, für die der Widerspruch systemisch ist? Sie ist eben nicht passiv und tatenlos, sie ist auch nicht grundsätzlich gegen jeden staatlichen Eingriff. Das ist vielmehr ihr Mantra: Tue alles, um politische Alternativlosigkeit zu verhindern! Erhalte dem Morgen die Möglichkeiten! In dieser Logik bekämpft sie alles, was Systemrisiken erzeugt. Sie will nicht, dass wir „gezwungen“ sind, etwas zu tun. Ihre „staatsbürgerliche Wachsamkeit“ (Seyla Benhabib) gilt der Aufgabe, die Wahlfreiheiten zu erhalten. Unsere und die unserer Kinder.

Bleibt die Frage, ob diese Philosophie der Alternative alternativlos ist. Der israelische Autor und Historiker Yuval Noah Harari schreibt: „Jeder Liberale, den die Ereignisse der letzten Jahre zur Verzweiflung getrieben haben, sollte sich daran erinnern, um wieviel schlimmer die Lage 1918, 1938 und 1968 aussah. Letzten Endes wird die Menschheit das liberale Narrativ nicht aufgeben, einfach weil sie gar keine andere Wahl hat.“ Da irrt Harari. Unglücklicherweise. Denn die Wahl hat die Menschheit immer. Glücklicherweise.

 

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