Liberalismus als politische Avantgarde

Liberalismus als politische Avantgarde

Capital Magazin Logo

Bei der Bundestagswahl 2017 erhielt die FDP 10,7 Prozent der Stimmen. Dann kam das Jamaika-Aus. Dann Thüringen. Jetzt droht der Partei die 5-Prozent-Hürde. Rechten wie Linken ist es gelungen, freiheitliches Denken als unzeitgemäß zu etikettieren. Manche sprechen gar vom Tod des Liberalismus. Ein guter Zeitpunkt, zu fragen, was Liberalität in diesen Tagen bedeuten kann.

Klar ist: Die FDP hat ihre Kernkompetenz veruntreut – die Freiheit. Genauer: Sie setzt sich nicht entschieden genug für das Unentschieden ein. Denn Freiheit ist nicht, wie viele glauben, eine polare Position, die sich gegen eine andere absetzt, etwa gegen Zwang. Sondern sie ist ein Dazwischen. Sie ist das Oszillieren zwischen Chaos und Determiniertheit, zwischen Unordnung und Ordnung. Mehr noch: Freiheit, das hat Adorno einmal gesagt, ist nicht die Wahl zwischen Schwarz und Weiß, sondern die Wahl, sich vorgegebenen Alternativen zu entziehen.

Diese Freiheit sattelt auf einer menschlichen, gegenwärtig geradezu pandemischen Grunderfahrung: dass das Leben „durcheinander“ ist. Es ist voller Mehrdeutigkeiten, Paradoxien und Widersprüche, die wir alle in uns vereinen, die wir alle in uns spüren: Nur wer nicht spricht, widerspricht sich nicht. Auch in der Außenwelt müssen wir anerkennen, dass die Dinge unklar sind und kontextabhängig. Auf der normativen Ebene nennen wir das „ambivalent“, auf der Erscheinungsebene „kontingent“ – etwas ist möglich, aber nicht sicher. Konkret bedeutet das: Es gibt nichts, was ohne sein Gegenteil auskommt. Auch die hochgelobten „Werte“ sind nur im Doppelpack zu haben: Sie werden immer balanciert durch einen polaren Zwillingswert, der ebenso berechtigt ist. Wie der Fußballtrainer Otto Rehhagel einst sagte: „Man kann nicht langfristig planen und kurzfristig immer verlieren.“

Man braucht eben beides. Entschiedenheit wie Nachdenklichkeit, Handeln wie Zurückhaltung, Vertrauen wie Kontrolle. Nicht alles in gleichem Maße, nicht jedes am selben Ort, nicht immer zu gleicher Zeit. Aber stets sind Werte gleich-„gültig“, sind als großes „UND“ keineswegs moralisch vorentschieden. Insofern ist eine liberale Haltung misstrauisch. Misstrauisch gegen die jede Behauptung der „Eindeutigkeit“, einer universal gesetzten „Vernunft“. Sie lässt sich nicht locken auf die starren Schemata des richtig/falsch, links/rechts, entweder/oder. Sie wehrt sich dagegen, Menschen und Dinge „mit Ja oder Nein (zu) überfallen“ (Nietzsche). Eben weil dieses Schema ungeeignet ist für eine situationsbunte Wirklichkeit, der man mit arretierten Wertungen nicht beikommt. Deshalb unterscheidet sie nur in Ausnahmefällen prinzipiell, meistens jedoch konstellativ, etwa zwischen Konsequenz und Sturheit, Eigensinn und Willkür, Sensibilität und Überempfindlichkeit, Verstehen und Entschuldigen.

Diese Haltung akzeptiert nur wenige Grenzen: Grausamkeit etwa, vor allem die körperliche, ein ebenso rätselhaftes wie uneingeschränktes Übel. Und den gesetzlichen Rahmen - es gibt für diese Vernunft keinen vernünftigen Rechtsbruch, nicht einmal eine moralisch grundierte Rechtsbeugung. Sie ist gekennzeichnet mithin durch die fundamentale Paradoxie, dass ihr Freiheitsbegriff die Freiheitsbeschränkung voraussetzt. Das gilt auch für die Freiheit selbst: Sie meint nicht Unabhängigkeit, sondern die Wahl der Abhängigkeit.

Ist das nun fröhliche Beliebigkeit, das große Egal? Nein, das ist das urbiblische Dilemma. Das ist die Bedingung unserer Freiheit, die uns in die Verantwortung bringt und eine Entscheidung fordert, wollen wir nicht in der Paralyse verharren. Das ist jedoch selten die Entscheidung zwischen Schwarz oder Weiß. Sie entscheidet eher ein Mehr-oder-weniger. Vor allem auch ein Heute-so-morgen-anders. So bleibt sie in Bewegung, macht es sich nicht gemütlich, will sich nicht beruhigen. Insofern hat sie keine „Position“, die zu „besetzen“ ist. Vielmehr bleibt sie im Prozess, dessen Verlauf – wie der Lauf der Welt - unvorhersehbar ist.

Deshalb vermeidet die liberale Haltung das absolutistische „statt“. Sie bevorzugt das „vor“. Also nicht Dezentral statt Zentral, sondern Dezentral vor Zentral, das Weite vor dem Engen, das Kleine vor dem Großen. Insofern ermutigt sie den Eigensinn, weil nur der einen Unterschied macht. Aber sie fördert auch den Gemeinsinn, weil es uns nur dann gut geht, wenn es auch anderen gut geht. Natürlich tritt sie auf die Seite der Veränderung, wenn das Alte überlebt ist. Aber sie argumentiert auch konservativ, wenn etwas erhaltenswert ist.

Dieses Pendeln, das Kompensieren und Einander-ständig-ins-Wort-fallen erzeugt Dynamik. Stets bereit zur Korrektur, begleitet vom Wissen, dass nichts alternativlos ist. Dass es keine Entscheidung gibt, die man nicht auch anders hätte fällen können. Dass jede Buchung eine Gegenbuchung hat. Dass etwas stärken heißt: etwas schwächen. Daher nennt sie nicht nur den Gewinner, sondern auch den Verlierer. Selbst wenn es, eine weitere Paradoxie, die Freiheit selbst ist. Oft resultiert daraus das Lachen, der somatische Reflex der Freiheit. Denn nur die Uneindeutigkeit ist eindeutig.

Nun wird einem Leben im Widerspruch gerne widersprochen. Wert-Symmetrie gilt vielen als Gräuel. Das sei doch Opportunismus! Fähnlein im Wind! Wer für nichts steht, fällt für alles! Das Gegenteil ist der Fall. Ein wirklich liberaler Liberalismus hält meinungsstark die Alternativen offen. Er verteidigt die Mehrdeutigkeit. Oder, wer es energischer will, kämpft gegen die heute geradezu explodierende Sehnsucht nach dem Ende der Ambivalenz. Damit ist vorrangig nicht die Alternativvernichtung durch Regeln, Gesetze und staatliche Bevormundung gemeint. Sondern eine geistige Haltung, die nicht mehr das Gegenteil anerkennt: Halbfalschheit, Gesinnungsethik, Populismus, das Dröhnen der Moralisierung, Weltanschauung, die nicht die Welt anschaut. Ein so verstandener Liberalismus wendet sich besonders auch gegen jene, die sich zwar liberal nennen, sich unter diesem Etikett aber lediglich ökonomisch oder wahltaktisch selbstoptimieren. Die sich nur das herauspicken, was ihnen gerade in den Kram passt und damit den liberalen Wesenskern dementieren – das Dilemma. Richtungspolitisch hält ein Liberaler mithin Äquidistanz zu den Ewigkeitsbeteuerungen der Rechten wie zu den Planungsverstiegenheiten der Linken. In deren geschlossenen Weltbildern ist von vorneherein klar, was richtig und falsch ist. Der Blick des Liberalen ist hingegen offen. Für ihn gibt es kein Außen (mit Ausnahme der zuvor genannten), er hat einen integrierenden Blick, betont das Verbindende, nicht das Trennende. Er reagiert gelassen auf die Macken und Absonderlichkeiten der Mitmenschen – er weiß, er hat sie auch. Die Mitte fühlt sich leicht an.

Das Unentschieden muss im topologischen Muster zwischen den Polen immer wieder neu erstritten werden. Erstritten im wahrsten Sinn des Wortes. Die FDP als Partei des Wettbewerbs ist mithin auch die Partei des ganz normalen Streits zwischen verschiedenen Überzeugungen. Mal haben Befürworter die Oberhand, mal Skeptiker. Mal braucht es Öffnung, mal braucht es Schutz. Aber es darf nur ein Mehr-oder-Weniger sein, ein kleiner Vorsprung, eine Nuance; es darf nicht in die eine oder andere Richtung kippen. Der Liberalismus versagt sich klaren Urteilen, er ist und bleibt grundsätzlich skeptisch. Er weiß: Wer ins Extreme geht, kann nur beweisen, dass alles falsch ist. Durch permanenten Streit kann sichergestellt werden, dass die Mehrdeutigkeit zur Geltung kommt und eine Entscheidung möglichst vielen zugutekommt.

Wenn dieser Liberalismus pragmatisch danach fragt, was der Augenblick fordert, wird das nicht selten auf einen Kompromiss hinauslaufen. In dieser Konsequenz steht das Liberale für eine paradoxe Freiheit, die sich begrenzt, um sie zu sichern. Wenn zum Beispiel der freie Wettbewerb zu Monopolen führt, die den freien Wettbewerb bedrohen (Google als Beispiel), dann ist er bereit, durch Regeln die Freiheit einschränken, um die Freiheit zu erhalten. Auch auf privater Ebene: Wer seine Kinder zu Freiheitswesen erziehen will, steckt in dem Dilemma, dass Erziehung die Freiheit begrenzt.

Was sind nun die politischen Konsequenzen einer Haltung, für die der Widerspruch systemisch ist? Sie ist eben nicht passiv und tatenlos, sie ist auch nicht grundsätzlich gegen jeden staatlichen Eingriff. Das ist vielmehr ihr Mantra: Tue alles, um politische Alternativlosigkeit zu verhindern! Erhalte dem Morgen die Möglichkeiten! In dieser Logik bekämpft sie alles, was Systemrisiken erzeugt. Sie will nicht, dass wir „gezwungen“ sind, etwas zu tun. Ihre „staatsbürgerliche Wachsamkeit“ (Seyla Benhabib) gilt der Aufgabe, die Wahlfreiheiten zu erhalten. Unsere und die unserer Kinder.

Kann man damit Wahlen gewinnen? Nein. Aber wenn man ohnehin nur mitregieren kann, dann braucht es keine grellen Bekenntnisse. Eindeutige und simplifizierende Botschaften – das können die anderen besser. Jedoch: Wenn es überall nur noch Polarisierung, Peripherie und Rand gibt, wenn die Mitte aufgegeben ist, dann ist das Zentrum die Avantgarde. Dann ist das Sich-Stemmen gegen den Sog der Zentrifugalkräfte, gegen den Verfall der Idee des Zentrums eine provozierende Außergewöhnlichkeit. Genau dafür muss die FDP pointiert auftreten, dafür braucht sie mehr Feuer. Auf die Bundestagswahl geschaut: Kann die FDP 10 Prozent der Stimmen erreichen, wenn sie sich zur politischen Avantgarde macht? Ich wäre optimistisch.

Zurück