Last und Lust

Last und Lust

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Im Gespräch mit dem Führungsexperten Reinhard K. Sprenger über Löcher im Käse, persönliche Bedeutungszuweisung und entschiedene Entschiedenheit.

 


Verantwortung genießt keine besonders hohe Attraktivität. Man gewinnt den Eindruck, man habe sie zu fürchten.

Man fürchtet sich vor der Freiheit.

 

Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Es gibt sicherlich mehrere Gründe. Die Menschen hätten zwar gerne Freiheiten, aber die damit verbundene Verantwortung möchten sie lieber abschieben. Im Grunde läuft es auf den Wunsch hinaus, alles tun zu können, aber den Preis nicht zahlen zu müssen. Der ist aber immer fällig, egal welche Entscheidung man fällt. Auch wenn man nicht entscheidet, was ja auch eine Entscheidung ist. Hinzu kommt, dass viele dieser Preise, die zu bezahlen sind, nicht immer vorhersehbar sind. Die Konsequenzen liegen mal im Plus-, mal im Minusbereich. Bei negativem Ergebnis kippt die Frage der Verantwortung häufig in den Aspekt der Schuld. Dann heißt es nicht mehr «wer ist verantwortlich?», sondern «wer ist schuldig?». Wenn Menschen mit der Vorstellung leben, dass Sie auf die Anklagebank geraten könnten, dann bleiben sie lieber passiv. Das bedeutet aber, dass andere entscheiden, zum Beispiel die Politik, Berater oder Führungskräfte. Wenn ich’s ganz groß riskiere, dann gibt es eine Sehnsucht nach den ozeanischen Gefühlen des Aufgehobenseins im Mutterbauch, im Sinne der Unschuld und des Versorgtseins.


Bleiben wir noch einen Moment bei der Freiheit. Der Psychiater Viktor Frankl hat gesagt wir sind nicht «frei von», sondern «frei zu» etwas. Wir können nicht all unsere Bedingungen und Möglichkeiten wählen, können aber trotzdem unser Leben gestalten. Würden sie dem zustimmen?

So, in dieser Verkürzung: Nein.

 

Wie sehen Sie das?

Die Freiheit, die ich meine, ist in aller erster Linie eine Freiheit «von etwas». Und zwar Freiheit von Zwang, von Bevormundung, von Infantilisierung – also eine negative Freiheit. Eine Freiheit, die sagt, ich lass den Menschen weitgehend die Wahl, ihren Weg zum Glück zu finden. Und ich sage ihnen auch nicht, was denn das Glück ist. Das Einzige, was ich tun kann, ist Hemmungen und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen. Diese negative Freiheit ist eher orientiert an dem alttestamentarischen: «Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.» Das zu Vermeidende ist relativ wenig, meistens sehr konkret und universalisierbar: Menschenverachtung, Vergewaltigung, Terror, Krieg… Lass uns verhindern, dass etwas Böses passiert und lass in allem anderen dem Einzelnen seine Präferenzen. So wie es die amerikanische Verfassung sagt: Such deinen Weg zum Glück und schreib niemandem das Glück vor.

 

Dann sollte man Ihrer Ansicht nach die Bedingung der Möglichkeit schaffen, aber darüber hinaus nichts vorgeben?

Freiheit ist nicht grenzenlos, sie ist immer die Wahl der Abhängigkeit. Also eine relative Freiheit. Deshalb haben Sie ein wichtiges Wort genannt: Die Bedingung der Möglichkeit. Ich kann nur die Bedingung der Möglichkeit verbessern. Ob ein Mensch sie ergreift oder nicht, das will ich weder nahelegen noch im Rahmen der Gesetze verhindern. Man soll auch, wie ich meine, den freiwilligen Selbstzerstörer ehren.

 

Beim Übernehmen von Verantwortung, muss man sich bisweilen auf Konsequenzen einlassen, die nicht vorhersehbar sind. Wenn man sich bereit erklärt, einmal in der Woche den Müll runterzubringen, ist das Risiko überschaubar. Aber warum sollte man beispielsweise ein Kind in die Welt setzen, man es weder beschützen können wird, noch absehbar ist, wie die Welt morgen ausschaut? Ist es in solchen Situationen besser, erst gar kein so großes Wagnis einzugehen?

Dann lebe ich nur aus dem Halben und nicht aus dem Vollen. Mir bleibt ja die Möglichkeit, neu zu entscheiden. Zwar nicht ex ante, ich kann nicht wieder zeitlich zurückspringen, aber wenn etwas nicht funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe, habe ich erneut die Wahl. Viele richten sich dann in ihrem Leiden ein. Ihr Motto: Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück. Leiden ist zwar leichter als Handeln, aber ich erlebe nicht die Intensität der Entschiedenheit. Denn nach der Entscheidung kommt ja noch die Frage der Energie, der Entschlossenheit. Man bekommt ja vom Leben das zurück, was man in jedem Augenblick hineingibt. Wenn ich halbherzig bleibe, nicht wirklich sage: „Da geht es jetzt für mich lang!“, dann krieg ich auch halbherzige Zufriedenheit. Wenn ich permanent darüber phantasiere, dass es anders besser oder schöner sein könnte, ist das wie beim Speed Dating. Die nächste Frau könnte ja die Richtige sein. Dann gebe ich derjenigen, die gerade da ist, überhaupt keine Chance. Dann bin ich nie da, wo ich bin.

 

Sie nennen in ihrem Buch «Prinzip Selbstverantwortung» Wählen (Autonomie), Wollen (Initiative) und Antworten (Kreativität) die drei Säulen der Verantwortung. Können Sie diese Stichworte etwas näher erläutern?

Wählen bedeutet: Du kannst alles tun, aber alles hat Konsequenzen. Der zweite Punkt ist die Selbstverpflichtung des Wollens, Commitment im Sinne von: Mache es mit Liebe und Hingabe, oder lass es ganz. Beim dritten Aspekt geht es mehr um einen Erkenntnisprozess: Die Situation ist nicht einfach als solche objektiv da, sondern wird von mir erzeugt, indem ich den real existierenden Fakten individuelle Bedeutung gebe. Manches passiert einfach und die Situation, wie sie ist, mag von mir auch nicht absichtsvoll gewollt sein. Wenn man Pech hat zum Beispiel. Aber wie ich darauf reagiere, das ist wiederum meine Verantwortung. Das ist meine Antwort auf die Dinge und diese kann sehr unterschiedlich ausfallen. Wenn in einer identischen Situation nur ein einziger Mensch anders reagieren kann als alle anderen, reicht das für Selbstverantwortung völlig aus. Das kann man an banalen Beispielen verdeutlichen. Gerade gestern war ich Nordrhein-Westfalen, wo der Pendlerverkehr ein Thema ist. Viele sitzen in Stau und jammern. Sie jammern über die anderen Autofahrer oder den Verkehrsminister. Pendlerverkehr als ruckender Opferclub. Aber unter einer Brücke über der A42 steht: «Sie stehen nicht im Stau, sie sind der Stau». Besser kann man es nicht sagen. Wir alle erzeugen uns die Umstände, als deren Opfer wir uns nachher erleben. Wenn man fragt, wer hindert Sie denn daran, beispielsweise näher an Ihren Arbeitsort zu ziehen, dann werden lauter äußere Gründe angeführt, wie etwa teure Mieten. Aber dass wir uns entschieden haben und jeden Morgen neu entscheiden, dass uns Anderes wichtiger ist, diese wirklichkeitserzeugende Kraft wollen die Menschen nicht anerkennen. Wenn wir von extremen Situationen absehen, dann ist Nichtwollen der Grund, Nichtkönnen nur ein Vorwand.

 

Wie wir zu Beginn gesehen haben, nehmen wir Verantwortung oft mit einem Lastcharakter wahr. Kann man da aus Ihrer Sicht auch einen anderen Zugang dazu gewinnen oder ist Verantwortung tatsächlich vor allem Last?

Last und Lust sind ja nur ein Vokal unterschieden. Und egal was ich tue, welchen Job ich annehme oder welchen Partner ich wähle, immer fehlt ja etwas von meiner Idealvorstellungen. Wenn ich aber permanent auf die Löcher im Käse schaue, werde ich auch unter den idealsten Bedingungen das Defizit beklagen. Das ist die Frage: Schau ich auf das, was fehlt, oder schau ich auf das, was da ist? Es gibt Partnerschaften, da schauen sich zwei Menschen problemhypnotisch dreißig Jahre lang an, was zwischen ihnen nicht funktioniert. Und sind völlig blind dafür, was möglich ist. Es ist eine Frage der inneren Einstellung. Wer glaubt, durch den Wechsel äußerer Umstände glücklich zu werden, der sitzt einem Irrtum auf. Der Irrtum ist: Du nimmst dich immer mit. Du wirst auch in einem anderen Land, bei einem neuen Partner, in einem anderen Job das Defizit sehen. Irgendwann wachst du neben dir auf und hast wieder dieselbe Situation. Natürlich gibt es Umstände, die besser oder schlechter passen. Aber es ist letztlich das innere Licht, das die Dinge reflektiert.  

 

Sie schreiben zum Thema Führung, dass die Führung mit der Selbstführung beginnt. Lässt sich das auf die Verantwortung übertragen? Ist die wichtigste Verantwortung die Selbstverantwortung?

Nehmen wir ein klassisches Beispiel. Führung ist ein Job voller Dilemmata. Permanent muss ich entscheiden zwischen Werten, die beide ihre Berechtigung haben. Die allermeisten Leute sind sich nicht klar darüber, dass Führungsverantwortung eine dilemmatische Existenzform ist, die notwendig Widerstand erzeugt. Widerstand von jenen, die anders entschieden hätten. Selbstverantwortung heisst dann, mir selbst zu sagen: Ich erkenne das an, sage aber trotz oder wegen dieser Dilemmata ja dazu. Es schwächt, darüber zu jammern, dass die Dinge selten eindeutig sind, dass man nicht everybody’s darling sein kann und dass die Karriere nicht immer in den Himmel wächst.

 

Manche Entscheidungen muss man auch revidieren. Es braucht die Möglichkeit zum Scheitern. Gleichzeitig gibt es einen enormen Druck nicht scheitern zu dürfen.

Das ist ein mehrdimensionales Thema. Zunächst muss man differenzieren zwischen Fehlern und Scheitern. Wenn ich in einer Organisation Alternativen vernichtet habe, so zum Beispiel durch Regeln und oder in der Gesellschaft durch Gesetze, dann kann ich nicht sagen, bei uns darf man Fehler machen. Sie möchten sich auch nicht in die Airline eines Flugzeuges setzen, bei der die Devise gilt «Bei uns darf man Fehler machen». Wenn Sie also aus dem «So oder so» ein «nur so» gemacht haben, dann ist ein Fehler eine klar definierte Sollwert-Istwert-Abweichung. Das dürfen Sie gar nicht zulassen. Man muss sich aber auch klarmachen, dass man durch die Verregelung den Fehler erst erzeugt hat. Ganz anders verhält es sich, wenn Sie etwas ausprobieren. Wenn beim Experimentieren etwas misslingt, kann man das Scheitern nennen, das ist aber kein Fehler. Wenn er etwas ausprobiert hat und es ist misslungen, ist er im besten Fall bei Google, wo von 100 Projekten nur eines funktioniert und 99 scheitern. Eine gewisse innere Unabhängigkeit vom Applaus der Tribüne ist für den eigenen Weg, der scheitern kann, unabdingbar.

 

Braucht es folglich eine größere Gelassenheit demgegenüber, was die anderen denken?

Was Andere von mir denken, geht mich nichts an, das geht die Anderen etwas an. Das ist erkenntnistheoretisch unhintergehbar. Feedback sagt unendlich viel mehr über den Feedbackgeber aus, als über den Feedbacknehmer. Sollte es mich kümmern?

 

Manchmal wird der Eindruck erweckt, zumindest medial, man sei verantwortlich für die ganze Welt. Das kann einerseits zu Überaktivismus (alles muss sich sofort ändern) führen, andererseits zu Resignation (man kann ja ohnehin nichts tun).

Das sind Kategorienfehler. Jeder Philosophiestudent lernt bereits im 1. Semester, dass eine Aussage eine Grenze haben muss. Wenn eine Aussage allumfänglich ist, dann ist sie leer. Wenn ich verantwortlich bin für die ganze Welt, dann bin ich für nichts verantwortlich. Also muss man bei jeder Aussage die Reichweite angeben. Sonst wird es falsch oder übergriffig. Über diese Grenzen kann man diskutieren, sie machen ein Gespräch überhaupt erst möglich. Wenn Grenzen nicht respektiert werden, werden Mauern gebaut. Mentale und physische.   

 

Wie gewinnt man ein Feld der tatsächlichen, persönlichen Verantwortung zwischen Grenzenlosigkeit und Lähmung?

Alles Erleben ist subjektgebunden. Niemand kommt aus dem hermeneutischen Zirkel der ichbezogenen Bedeutungszuweisung heraus. Insofern kann ich mich fragen: Was erlebe ich im weitesten Sinne als sinnvoll? Das kann ich nur für mich persönlich entscheiden. Es gibt keine administrative Erzeugung von Sinn. Ich kann nicht Sinn als Angebot im Köcher haben. Sinn ist immer Eigentätigkeit, Privatsache, nicht etwas, was wir vor-finden, sondern individuell er-finden. Es heisst ja auch Sinn-Gebung, nicht Sinn-Nehmung. Das scheinen die Firmen mit ihrem „purpose“-Gehupe noch nicht verstanden zu haben.

 

Sie gehen von einem starken Willen aus. Manchmal gibt es doch aber auch Situationen im Leben, in denen einem das Wollen abhandenkommt.

Der zentrale Punkt scheint mir, dass viele Menschen schon seit frühster Kindheit einem von außen kommenden «Sollen» folgen. Das Sollen verdrängt dann allmählich das Wollen. Vor allem, wenn die Verbeugung vor dem Sollen belohnt wird. Nehmen wir einmal das Thema Lernen. Lernen ist eine Art Vorfreude auf mich selbst. Wenn ich nun lernen soll, dann ist das im Grunde kein Lernen, sondern Anpassen. Ich passe mich dem Willen und den Sollvorgaben anderer an. Das funktioniert nur mit einem geringen Wirkungsgrad. Ganz anders ist es mit dem wirklichen Lernen, das nur eine einzige motivationale Quelle hat und die heißt: Ich will. Und die ist bis ins höchste Alter belastbar. Es scheint mir auch fraglich, einen Menschen dazu bringen, langfristig etwas zu tun, was er eigentlich nicht will. Mit Belohnungen bestraft man ja. Man verdrängt mit dem Anreizen die eigentliche Motivation. Sollte jemandem das Wollen fehlen, würde ich vermutlich fragen: Lebst du dein Talent, also das, was du wirklich gut kannst, wo deine Fähigkeit wie eine Sonne leuchtet? Oder hast du dich aufgrund irgendwelcher Entscheide, die beispielsweise deine Eltern für dich getroffen haben, fremdsteuern lassen? Und die zweite Frage lautet: Hast du ein Spielfeld gewählt, wo das, was du am besten kann, auch wirklich ein Lächeln erzeugt? Wo das, was du anzubieten hast, auch wirklich gewollt ist? Viele Menschen bewegen sich infolge lebensbiografischer Entscheidungen auf Spielfeldern, auf denen es für sie zwar einigermaßen funktioniert, die aber nicht wirklich zu ihnen passen. Wo man allenfalls Trostpreistugenden von ihnen erwartet. Dann kommt man aus dem Mittelmaß nicht heraus.  

 

Von welcher Verantwortung haben Sie persönlich am meisten Respekt?

Vor jener, die nicht moralisiert, die nicht das Gute will, sondern allenfalls das Böse vermeidet. Und vor jener, die die Selbstbezüglichkeit einer Entscheidung anerkennt. Wenn ich zum Beispiel jemandem helfe, dann deshalb, weil es mir dadurch gut geht. Ein anderer mag einen Nutzen davon haben. Aber in einem tieferen Sinne tue ich niemals etwas für andere, sondern immer nur für mich selbst. Auch wenn ich mich dafür opfere.

 

Möchten Sie noch etwas ergänzen zum Thema Verantwortung?

Ich würde noch gerne die Freude an der Verantwortung betonen. Ich erlebe es als lustvoll zu wissen, dass es auf mich ankommt und ich mich als selbstwirksam erleben kann. Das macht mein Leben intensiv. Beispielsweise spiele ich in einer Band mit Musikern, die alle Vollprofis sind. Ich bin der einzige Nichtprofi. Da ich aber der Sänger bin und die Musik und die Texte schreibe, muss ich mich richtig anstrengen, um mit diesen großartigen Instrumentalisten auf Augenhöhe zu spielen. Den anderen kann ich auch eine Klopapierrolle als Notenblätter vorsetzen, die spielen das trotzdem exzellent runter. Ich hingegen muss richtig arbeiten, um meiner Verantwortung für das Gemeinsame gerecht zu werden. Das erlebe ich als lustvoll. «Ohne mich läuft nichts» ist eben auch erotisch.

 

Dann bestünde die helle Seite der Verantwortung darin, dass man etwas geben kann, in dem man nicht austauschbar ist?

Genau. Das sag ich im motivationalen Kontext der Unternehmen immer wieder. Vergesst die ganze Nummer mit der Motivation! Vergesst Boni, Incentives, Orden und Ehrenzeichen. Jemand ist hinreichend motiviert, wenn er weiss, dass es auf ihn ankommt.

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