Konflikte sind die Lösung

Konfliktfreiheit ist naiv. Das liegt an der Ambivalenz (fast) aller Güter. Jedes Ding hat (mindestens) zwei Seiten, Vor- und Nachteile, kein Wert existiert ohne Gegen-Wert. Diese „zwei Seelen in einer Brust“ kennt jeder; wer nur eine kennt, wir bald auf jemanden treffen, der die andere für wichtiger hält. Streit! Weil Individualität Differenz ist, Subjektivität Dissens. Streit ist im Grunde nicht das Problem, sondern der oft destruktive Umgang damit. Dieser Umgang erklärt sich aus der kaum bewussten Erwartung von Eindeutigkeit, Einzigrichtigkeit, Objektivität, Harmonie, Wahrheit, Gott. Was hinausliefe auf eine prästabilisierte Konflikt-„Lösung“, mithin jede Entwicklung beenden würde … es aber glücklicherweise nicht tut: Ohne die Magie des Konflikts wächst Menschen keine Ich-Stärke, lernen sie sich selbst nicht kennen, andere auch nicht, gäbe es in Unternehmen keine Innovation, keine Dynamik, kein Wachstum, landeten wir gesellschaftlich im Totalitarismus. Einigkeit macht starr. Für Führungskräfte kommt hinzu, dass der Konflikt ihre Existenz legitimiert. Ohne Ziel- und Wertkonflikte braucht es keine Führung, die bei drohender Paralyse in die Verantwortung geht und entscheidet. Das ist der Sinn der Hierarchie („heilige Ordnung“): eine strukturelle Vorentscheidung, die Konflikte mäßigt. So besehen sind Führungskräfte Konfliktparasiten.

Aufrufe zur Geschlossenheit sind daher Aufrufe zur Friedhofsruhe. Diese entsprechen der Maschinenlogik der Unternehmensführung („gut geölt“, „reibungslos“), die auf ruhigen Abschöpfungsmärkten dem Konflikt das Kainsmal der Ausnahme und des Störenden tätowiert. Im Maschinendenken ist Effizienz die Monstranz, der alle huldigen. Damit kann man heute nur noch selten Blumentöpfe gewinnen. Auf globaldynamischen Märkten brauchen wir daher einen neuen Konfliktbegriff, einen positiven, einen produktiven: Wir müssen die Lösung des Konflikts tauschen gegen den Konflikt als Lösung.

Im Individuellen: Raus aus der Harmoniesucht, raus aus der Konfliktscheu. Natürlich, wir wollen nicht verletzen und wollen nicht verletzt werden. Aber aus der Furcht, zu weit zu gehen, gehen wir oft nicht weit genug. Wer Streit vermeidet, erntet noch lange nicht Frieden. Und es entsteht ein Pastellgemälde der Realität. Das genau ist die Idealvorstellung jener Menschen, die von einer multikulturellen, konflikt- und abwertungsfreien „one world“ träumen. Wer so auf Konflikte schaut, dem fehlt es folgerichtig an Übung im vernünftigen Umgang. Dieses Üben meidet die Ego-Grandiosität das Rechthabenwollens, es meidet die kindische Präsentation von Zornessparbüchern, meidet die offene oder verdeckte Inszenierung von Alternativlosigkeit, meidet eine heimliche Lösungsfixierung. Denn ein übender Umgang mit Konflikt ist keine Taktik, sondern resultiert aus der Einsicht in die Mehrdeutigkeit der Welt. Intelligenz fliegt auf zwei Flügeln.

Im Institutionellen: Wir müssen lernen, das Unternehmen als kooperative Ordnung zu verstehen, in der verschiedene Logiken gleichberechtigt nebeneinander existieren. Ein Unternehmen ist multi-rational: Das Marketing „tickt anders“ als die Compliance-Abteilung, F+E anders als die Logistik, Vertrieb wieder anders, das Controlling stemmt sich gegen alle. Um diese Widersprüche herum sind Unternehmen gebaut, sie leben in und von permanenter Nichtübereinstimmung, schalten Konflikte nicht aus, sondern geben ihnen eine Form. Deshalb darf keine partikulare Logik dominieren, niemand darf einen Konflikt „gewinnen“. Im Unternehmen ist jeder Sieg ist eine Niederlage. Das zu verhindern, dafür braucht es konfliktfähige Führungskräfte als Magier: Balanceartisten, Widerspruchskünstler, Integrationsakrobaten.

 

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