Gib dem Zufall eine Chance

Blackout! Im Mai dieses Jahres wurde eine süddeutsche Buchhandlungskette Opfer eines schwerwiegenden Hacker-Angriffs. Alle Server mussten ausgeschaltet werden, alle Systeme runtergefahren. Per Mail war das Unternehmen nicht mehr erreichbar, der Webshop war tot. Etliche Mitarbeiter waren von dieser Situation überfordert, gleichsam paralysiert. Als wären sie „drogenabhängig“ – abhängig von der Droge Computer. Schlagartig wurde klar, wieviel Zeit sie vor dem Monitor verbrachten. Vor allem sozialallergische Mitarbeiter wussten kaum mehr, was zu tun war. Sich dem Kunden zuwenden? Gespräche führen? Die Lage führte jedermann vor Augen, dass man sich vorrangig mit Nachrangigkeiten durch den Tag schlug. Es war jedoch noch eine weitere Lektion zu lernen: der Autonomieverlust durch zentralistische IT-Strukturen. Plötzlich war man auf sich allein gestellt. Musste wieder Verantwortung übernehmen. Selbst denken, selbst handeln. Weil sonst nichts lief. Und siehe da: Nicht nur die Verkaufszahlen stiegen – es machte auch mehr Spaß. Es war wie das Wiederentdecken des Erwachsenseins, der selbsthelferischen Kräfte.

Was auf den ersten Blick lediglich das Gute im Schlechten schildert, verdeckt den Blick auf Wesentlicheres – auf das, was nicht veränderbar ist. Wer hätte nicht schon mal versucht, dem Masterplan des Lebens auf die Spur zu kommen, dem Schicksal, dem Nicht-Wählbaren, dem Kontingenten? Fragen zu klären wie: Warum geschieht gerade dies mir, uns, ihnen? Als Kinder knödelreimten wir „Warum ist die Banane krumm?“, nicht ahnend, wie sehr wir an eine anthropologische Grundverfasstheit rührten: an den Menschen als Warum-Wesen. Er sucht für jedes Phänomen eine Erklärung, eine Ordnung. Eine Ur-Sache. Und wenn er sie nicht findet, er-findet er eine.

Früher war diese Ursache einsilbig: Gott. Wenn die Ernte ausblieb – Gott will uns strafen. Starb jemand zu früh – Gottes Wille. Hatten wir Glück – Gott hat Gnade walten lassen. Den Extremfall etikettierten wir als „Jüngsten Tag“. Wir verbeugten uns vor dem Göttlichen, dem Unabänderlichen, was ein Mensch ist und wie ihm geschieht. 

Damit ist es vorbei. Nietzsches berühmte Formulierung „Gott ist tot“ signalisierte das Ende der Bescheidenheit. Und den Beginn der Moderne. Diese hat ein Personaleinsatzproblem. Wer soll Gottes vakante Stelle besetzen? Wer „macht“ jetzt das Schicksal? Kandidaten sind vor allem jene, die nicht Gott sind: die Menschen. Aber auch sie haben nicht alles im Griff, nicht alles verläuft nach Plan. Diesen Fall erklärt man heute mit dem Zufall. Er ist das große Unerklärliche, eine Entgleisung in Gottes Räderwerk, der Plandurchkreuzer in Dürrenmatts „Physiker“. Etwas kommt dazwischen, stellt sich quer zur Absicht. Nicht gewollt, nicht gewählt, weder notwendig, noch vorhersehbar. Ein Feind menschlicher Freiheit und Würde. Schallend lacht er über Beruhigungstechniken wie Risikokalkulation und Expertenautorität. Empörend.

Seit Angedenken übt sich deshalb der Mensch, den Zufall zu bändigen, die Fülle der Möglichkeiten zu begrenzen, seine Welt zu ordnen und festzulegen. Und je mehr der Moderne das gelingt, desto mehr leidet sie unter dem Restrisiko, desto mehr artikuliert sich ein extremes Bedürfnis, den Zufall möglichst vollständig aus dem Leben zu verbannen. Man will kontrollieren, alles, irgendwie, auch den eigenen Körper. Entsprechend wird der Zufall methodisch storniert: Vorsorge, Plan, Versicherung, Back-up, Nummer Sicher – übrigens ein Wort aus dem Strafvollzug. Das Leben wird unter eine vorauslaufende ceteris-paribus-Klausel gestellt: Alles soll gleich bleiben und wenn sich etwas ändert, dann bitte nur als willkürlich herbeigeführte Perfektionierung.

Das lässt sich ausbeuten. Von der Politik etwa, die verspricht, den Menschen vor dem Zustossenden zu schützen - und unter der Hand die Zufallsvorsorge zur infantilisierenden Volkspädagogik wandelt: Der Mensch ist, was er ist, das Ergebnis planerischer Absicht. Auch die Wirtschaft lässt sich nicht lumpen: Es gibt eine riesige Industrie, die nichts anderes verkauft als Angst. Und sich nach der Pathologisierung der Zukunft selbst als Therapeutikum empfiehlt. Sogar im Pakt mit der Philosophie: „Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen.“ Wer wollte Hegel widersprechen?

Legen wir dennoch ein gutes – naturgemäss „zufälliges“ - Wort für den Zufall ein.

Zunächst ist der Zufall weder gut noch schlecht. Es gibt auch glückliche Zufälle, auf die niemand verzichten will. Oder er ist beides, wie oben am Beispiel des Buchhandels illustriert. Für die Evolution hingegen ist der Zufall eindeutig gut - als Überlebens-Prinzip. Die Biologie liebt die kleinen Kopierfehler bei der Herstellung von Imitationen: Über Sex werden die Erbanlagen zweier Individuen zufällig gemischt und auf gemeinsame Nachkommen verteilt. Die Bandbreite möglicher Varianz erhöht sich damit exponentiell. Das wiederum ist wichtig gegen evolutionäre Wettbewerber; sie können sich umso schlechter auf jemanden einstellen, der häufig die Form wechselt. Dasselbe gilt für ökonomische Akteure: Wirtschaftlich erfolgreich sind jene, die nicht ausrechenbar ist. Die Chancen sehen, die der Zufall bietet. Und handeln. Ersteres tun manche, das zweite ist seltener. Viele hat der Zufall gerufen, aber wenige haben ihn auserwählt.

Evident ist ebenso, dass wir uns als Individuen nicht durch planerische Erfolge entwickeln, sondern durch Schwierigkeiten. Wer den Zufall auszuschalten versucht, leidet mithin an Misserfolgsarmut. Zudem übersieht er die Blumen am Wegesrand. Überraschend Neues entsteht oft aus einem Zustand, der auf den ersten Blick wie eine Katastrophe wirkt. Das Unvorhergesehene bietet zumindest die Möglichkeit, neuer, anders, besser zu sein als zuvor. Und weil ihm etwas dazwischengekommen ist, hat er auch eine Geschichte, die der Persönlichkeit Form gibt. Die ist erzählenswert. Ohne Zufall keine Erzählung! Wer sie mitteilen will, sollte daher seine Selbstwirksamkeit relativieren: Unsere Geburt ist uns zugefallen, unser Land, in dem wir aufgewachsen sind, unsere Herkunftsfamilie, die Zeitbedingungen: Das haben wir nicht gewählt, da stecken wir drin. Als deutscher Mann zum Beispiel, der kurz nach dem 2. Weltkrieg geboren wurde, hat man mit historisch vorbildlosen Friedensjahrzehnten das große Los gezogen.

Wer dafür votiert, das alles dem Walten eines unpersönlichen Fatums unterliegt, kommt gleichwohl um den Zufall nicht herum: Die Welt, wie sie ist, hätte vom Schöpfer anders gestaltet werden können, unbegrenzt, ist also eine Schöpferlaune, insofern Realisation von Freiheit. Diese wiederum ist Voraussetzung unserer Reaktion auf das Zugefallene, einer beobachtenden und reagieren Freiheit, einer Freiheit Zweiter Ordnung. Deshalb dementiert der Zufall nicht die menschliche Freiheit, sondern ist ihre Bedingung. Angesichts des Zufalls sind wir also herausgefordert, uns in der Freiheit zu üben und die Gelegenheiten zu nutzen, deren endliche Summe das ganze Leben ist. Konkreter noch: Wenn es nur einen einzigen Menschen gibt, der auf dieselbe Zufälligkeit unterschiedlich reagiert, reicht das aus für Selbstverantwortung. Nur auf den schicksalhaftesten aller Zufälle können wir nicht reagieren – auf unseren Tod. Dann fällt zu, was fällig ist. Wer aber mit Heidegger der Ansicht ist, dass der Mensch bereit ist zu sterben, wenn er geboren wurde, der hat auch die kalten Duschen des Lebens mitgewählt - der Möglichkeit nach.

Dem Zufall eine Chance geben – wie macht man das? Spiel und Kunst sind Möglichkeiten. Zelte bauen statt Paläste. Wenn Planung, dann mittlerer Reichweite; das aviatische „Fliegen auf Sicht“. Die Lethal-Weapon-Lektion: „Always have a backup plan”. Brauchbare Moment-Lösungen statt „letztendliche“ Lösungen. Experimentieren. Möglichkeitsbewusstsein entwickeln.  Redundanzen bilden - wer zu schlank ist, hat im Fall der Fälle „nichts mehr zuzusetzen“. Bei der Personalauswahl: Würfeln! So wie man es schon in Athen tat, in Florenz, Venedig und Basel. Auf Ziele verzichten - sie verleiten zum Tunnelblick, verführen zum Festhalten,  vermiesen die Gegenwart. Ein unerklärlicher Erfolg war noch immer besser als ein gut analysiertes Scheitern.

Das alles ist nicht leicht in einem Land, in dem Todesgefahr und Lebensgefahr dasselbe ist. Aber es lohnt sich – wie es der Zufall will.

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