Die positive Kraft des negativen Denkens

Wir sind unverbesserliche Weltverbesserer. Wo bleiben die mutigen Nein-Sager?

«Don’t worry, be happy»: Das Positive erfreut sich in unserer Gesellschaft ungebrochener Wertschätzung, jedenfalls tun alle so, als ob. Wir bemühen uns hierzulande, auch vollständig entleerte Gläser als halb voll zu beschreiben, immerfort gibt es «Silberstreifen am Horizont», ist man «auf gutem Wege», sind gehobene Daumen und Smileys allgegenwärtig. Wir bekennen, die Ja-Sager mehr als die Nein-Sager zu mögen, wir wollen lieber an etwas hängen als unabhängig sein.

Vor allem das Denken soll immer und überall positiv sein.Wir sollen Lösungen bringen, nicht Probleme, sollen den Käse sehen, nicht die Löcher. Auch die Politik strotzt vor solchem positivem Denken. Statt sich – wie beim Arzt – über einen negativen Befund zu freuen («Es ist alles gut, wir müssen nichts tun»), bedarf alles der Perfektionierung: Alles wuchert und metastasiert. Der Politiker macht ja nicht die Augen auf und freut sich daran, dass alles gut läuft und sich auf wundersame Weise zusammenfügt. Nein, er erkennt sofort eine Optimierungsmöglichkeit, eine Veränderungschance, zumindest einen Aufmerksamkeitsgewinn. Er denkt positiv und fügt etwas hinzu. Im Regelfall ein Gesetz.

Das gute Leben gibt es nicht.

Dieses Muster befindet sich im Windschatten der Moderne: «Mehr ist besser» ist ein Glaubenssatz, der längst zum Dogma avancierte. Auch wenn es oft heisst, weniger sei mehr, sagt man das immer mit dem Zusatz «manchmal». Doch wäre es nicht Zeit, sich über einen negativen Befund zu freuen? Haben wir das verlernt? Ich eine einen Befund, der befreit und erleichtert. Man könnte dies die positive Kraft des negativen Denkens nennen: eine Strategie, die klarer und konsequenter ist als die üblichen Konzepte des positiven Tuns – von der gerechten Gesellschaft», dem «gelungenen Leben», der «guten Unternehmensführung», dem «ehrbaren Kaufmann» bis um «wohlerzogenen Kind». Das schafft Offenheit für die Initiative des Einzelnen, Sphären des Suchens statt des Immer-schon-gefunden-Habens. Das lässt freier atmen.

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schrieb von der Negativität als «treibender Kraft des Fortschritts», die dann der Ökonom Joseph Schumpeter mit seiner «schöpferischen Zerstörung» personifizierte. Die negative Theologie basiert auf der Einsicht, dass von Gott nicht gesagt werden könne, was er sei, sondern nur, was er nicht sei. Der ärztliche Eid des Paracelsus verlangt: «Vor allem schade nicht!» In der Biologie argumentiert die «Schlechte-Gene-Hypothese» für die Vermeidungsstrategie sexueller Selektion: nicht «Suche das Beste!», sondern «Meide das Schlechte!». Analog dazu die Weisheit aller Designer, vorformuliert von Antoine de Saint-

Exupéry: «Vollkommenheit entsteht nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.» Dieselbe Denkfigur gilt auch für die Ethik. Fragen wir zunächst: Das gute Leben – gibt es das? Und kann das ein anderer für mich wissen? Wenn man mit Menschen spricht, bin ich immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich sie ihr Leben gestalten. Der eine sucht Geld, der andere Freizeit, der eine soziale Bedeutung, der andere friedvollen Rückzug. Letztlich weiss niemand, was in einem absoluten Sinne gut, richtig und wahr ist. Wir sind mithin gut beraten, nicht an das gute Leben zu glauben, das man irgendwie herstellen kann, sondern an die Vermeidung des Schlechten – auch wenn wir natürlich wissen, dass das nicht durchgehend klappt.

Isokrates formulierte im 5. Jahrhundert vor Christus als Erster einen symmetrischen Grundsatz, der vor allem vom Alten Testament so tradiert wird: «Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.» Was ist das, was du nicht willst? Darüber sind sich die meisten Menschen schnell einig, das ist recht konkret. Und es sind nur wenige Dinge: körperliche Gewalt etwa, Krankheit, Krieg. Die negative Reziprozität ist also bescheiden, sie will Schlimmes abwenden. Es biegt jedenfalls nicht ab ins allgemein Wünschbare. Mir scheint daher das «Was du nicht willst . . .» geeignet, als ein moralischer Universalkonsens anerkannt zu werden. Darauf kann sich selbst die heterogenste Gesellschaft einigen.

Im Unterschied dazu heisst es im Neuen Testament bei Matthäus: «Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen.» Ähnlich schon Mohammed: «Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.» Das ist nun aber viel weiter ausgreifend. Wenn ich geküsst werden will, soll ich dann diese Person küssen, auch wenn sie es gar nicht will? Und was möchte ich nicht alles, was man mir Gutes tun solle? Ein prall gefüllter Sack mit Wohltaten möge sich über mich ergiessen! Geld, Freizeit, Reputation, Ruhe – alles gleichzeitig und von allem möglichst viel.

Negative Ethik

Mehr noch: Was wünsche ich mir nicht alles, was einem anderen Menschen völlig gleichgültig ist, er ja sogar ablehnt! Es liegt auf der Hand, dass die «positive» Forderung als Eintrittskarte für Millionen staatlicher Bürokraten dient, sich als Statthalter des «moralischen Ganzen» aufzuspielen. Es ist die Erlaubnis, Politik und Recht zu moralisieren, Vorschriften für das «richtige» Leben zu erlassen, die Menschen zu erziehen und ihr konkretes Handeln im Namen des politisch Erwünschten zu unterdrücken.

Zwischen der Abschaffung von Übeln und der Förderung von Gutem besteht also ein krasses Missverhältnis. Die positiven Pflichten (Gebote: «Du sollst!») sind häufig Hilfs- oder Unterstützungsgebote, während negative Pflichten (Verbote: «Du sollst nicht!») als Schädigungsverbote zu verstehen sind. Wir halten uns heute, dem Zeitgeist gehorchend, vorrangig an das «Du sollst!». Aber der Zeitgeist ist eher Zeit als Geist. Denn das «Du sollst nicht!» ist weit wichtiger, verbindlicher und konsequenter durchzusetzen.

Karl Popper hat zeit seines Lebens darauf hingewiesen: Es ist sowohl sehr viel dringender wie lebenspraktischer, das Übel zu beseitigen, als Gutes zu schaffen. Viele Denker haben ihm sekundiert. Auch Erich Kästner: «Es gibt nichts Gutes. Ausser man tut es.» Er schrieb nicht: «Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.» Das wird fast immer falsch zitiert, und es verfälscht auch den Inhalt. Kästner war in der Tat der Auffassung, dass es «Gutes an sich» nicht gibt. Er hat auch kein Komma hinter den ersten Satz gesetzt, sondern einen Punkt. Auf diesen Punkt kommt es an. Diejenigen, die dem zustimmen, orientieren sich an einer negativen Realität, von der sie sich abgrenzen wollen. Das hat sehr praktische Vorteile: Die Aufforderung, etwas nicht zu tun, umgeht die Versuchung, etwas «einzig Richtiges» absolut zu setzen. Sie behauptet keine allein denkbare Wahrheit. Sie bekennt sich zur Mehrdeutigkeit: Im Wahren ist immer auch etwas Falsches, im Vernünftigen immer auch etwas Unvernünftiges, in der Freiheit immer auch etwas Zwang. Eine negative Ethik hat also kein Ziel – ausser Schaden zu vermeiden. Sie will keinen Endzustand erreichen, kein Paradies auf Erden. Es ist gerade der Gegenentwurf zum Perfektionsideal, zur breitbeinigen Basta!-Politik, die überall ins Kraut schiesst.

Wider den Regelzwang

Das hat die amerikanische Verfassung so vorgesehen: Schreibe kein Lebensglück vor, sondern lass die Menschen ihren je eigenen Weg zum Glück finden. Verhindere vielmehr das, was absolut und in einem sehr starken Sinne zu vermeiden ist. Jede neue Regulierung ist auf ihre Notwendigkeit zu überprüfen, ob da wirklich eine Not zu wenden ist. Im Zweifel muss es unreguliert bleiben. Wünschbarkeit darf nicht mit Pflicht gleichgesetzt werden, Lästiges nicht mit Gesetzeslücke. Es ist immens gefährlich für unsere politische Ordnung, dass in der Medien-Demokratie nur der laute, überzuständige und hyperaktive Politiker Zustimmung findet, nicht aber der zurückhaltende.

Platon nennt jenen den wahren Führer, der seine Aufgabe lustlos erledigt. Richtig gelesen: lustlos. Andernfalls sei er anfällig für Leidenschaften aller Art, was ihn launisch und daher unberechenbar mache. Zum anderen neige er dazu, Regelung über Regelung zu erlassen, sich in den Vordergrund zu drängen und damit die Menschen zu bevormunden. Dem sollten wir uns anschliessen: Geführt wird am besten durch Untätigkeit. Die Helden des Negativen sorgen dafür, dass nichts Entscheidendes geschieht. Sie retten die Ereignislosigkeit. Ein anderes Wort dafür ist Frieden.

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