Die Mitte fühlt sich leicht an

Es konnte einem ganz wirr im Kopf werden, las man Roman Buchelis Debattenbeitrag „Das Konsens-Kartell hat ausgedient“. War der Titel in seiner provokanten Anti-Schnarch-Verdichtung noch plausibel, so ging es anschließend drunter und drüber. Da hangelte sich der Text vom bräsigen Buddha über die Kritik der Authentizität hinüber in die Eindeutigkeitsfalle und schließlich zur „Mitte“ als „Phantasma“ und „Unort“. Die zentrale Aussage: „Wenn aber der Mensch in seiner Mitte hohl klingt, weil hier allein das Bauchgefühl regiert, das Denken aber an einem exzentrischen Ort stattfindet, so hallt es umso mehr in der politischen Mitte hohl und blechern.“ Da hängt das Bild zwar schief, aber daran kann in der Tat die Debatte ansetzen - denn dem ist entschieden zu widersprechen. Am besten über den Begriff der Freiheit.

Freiheit ist nicht, wie viele glauben, eine polare Position, die sich gegen eine andere absetzt, etwa gegen Zwang. Sondern sie ist ein Dazwischen. Sie ist Bewegung, sie ist das Oszillieren zwischen Chaos und Determiniertheit, zwischen Unordnung und Ordnung. Mehr noch: Freiheit, das hat Adorno einmal gesagt, ist nicht die Wahl zwischen Schwarz und Weiß, sondern die Wahl, sich vorgegebenen Alternativen zu entziehen.

Ebenso wie die Gegenwart eine Fiktion ist. Der Augenblick ist eine theoretische Konstruktion. Statt dessen ist er immer schon vorbei. „Verweile doch, du bist so schön“ ist ein – meist unfrommer – Wunsch. Unerfüllbar. Das Leben ist Bewegung, Pendeln, Weiterdrängen, Wir irren uns voran.

Insofern ist eine freiheitliche Haltung misstrauisch. Misstrauisch gegen die jede Behauptung der Eindeutigkeit, einer universal gesetzten Vernunft. Sie lässt sich nicht locken auf die starren Schemata des richtig/falsch, links/rechts, entweder/oder. Sie wehrt sich dagegen, Menschen und Dinge „mit Ja oder Nein (zu) überfallen“ (Nietzsche). Weil dieses Schema ungeeignet ist für eine situationsbunte Wirklichkeit, der man mit arretierten Wertungen nicht beikommt. Deshalb unterscheidet sie nur in Ausnahmefällen prinzipiell, meistens jedoch konstellativ, etwa zwischen Konsequenz und Sturheit, Eigensinn und Willkür, Sensibilität und Überempfindlichkeit, Verstehen und Entschuldigen.

Diese Freiheit muss im topologischen Muster zwischen den Polen immer wieder neu erstritten werden. Erstritten im wahrsten Sinn des Wortes. Wie Googles Quantencomputer „Sycamore“ Überlagerungszustände errechnet (Superposition), die einander sich ausschließende Alternativen zu parallelen Möglichkeiten macht. Es gibt unzählige Zwischenzustände, die sich fließend verschränken. Deshalb ist nichts ist so geheimnisvoll wie Klarheit. Vielmehr findet das Denken als Bewegung um die Unklarheit statt, nicht am exzentrischen Ort – dort findet man Rechthaben und Alternativlosigkeit. Die Laster links und rechts, die Tugend in der Mitte.

Die Mitte ist mithin nicht „prästabilisiert“,  sie ist eben auch nicht im buddhistischen Sinne passiv und tatenlos, keine Position, kein Standpunkt mit dem Gesichtskreis Null. Sondern ein Ort des Wettbewerbs, des ganz normalen Streits zwischen verschiedenen Überzeugungen. Mal haben Befürworter die Oberhand, mal Skeptiker. Mal braucht es Öffnung, mal braucht es Schutz. Aber es darf nur ein Mehr-oder-Weniger sein, ein kleiner Vorsprung, eine Nuance; es darf nicht in die eine oder andere Richtung kippen. Die Mitte versagt sich mithin Fixierungen, die nicht revidierbar sind; sie ist und bleibt grundsätzlich skeptisch. Sie weiss: Wer ins Extreme geht, kann nur beweisen, dass alles falsch ist. Durch permanenten Streit kann sichergestellt werden, dass Mehrdeutigkeit zur Geltung kommt und eine Entscheidung möglichst vielen nützt. „Alles in Massen“ lautet die zweite Inschrift des Tempels von Delphi.

Wer da Opportunismus wittert, der bewegt sich nicht auf der Höhe der realen Gegensätze. Die aber sind immer neu zu balancieren, und genau dafür kann man pointiert auftreten, in Präsentation und Inhalt. Da braucht die Freiheit mehr Feuer! Feuer für den Widerstand gegen Intoleranz und Bevormundung – wenn das Gutgemeinte unter dem Zwang der Gesinnung sich ins grotesk Schlechte biegt. Das muss die Mitte brandmarken, selbstbewusst und aggressiv brandmarken. Kämpferisch für den Ausgleich.

Kann man damit Wahlen gewinnen? Nein, nicht im Sinne von Mehrheit. Aber wenn man ohnehin nur mitregieren kann, dann braucht es keine grellen Bekenntnisse. Simplifizierende Botschaften – das können die anderen besser. Jedoch: Wenn es überall nur noch Polarisierung, Peripherie und Rand gibt, dann ist das Zentrum die Avantgarde. Dann ist das Sich-Stemmen gegen den Sog der Zentrifugalkräfte, gegen den Verfall der Nuance eine provozierende Außergewöhnlichkeit. Dann ist die Mitte politische Avantgarde. Sie fühlt sich leicht an.

Link zum Artikel auf nzz.ch

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