Der neue Behauptungsdespotismus

Der neue Behauptungsdespotismus

Ungewissheit grundiert unsere Existenz. Umso befremdlicher der Wunsch, ihr zu entgehen. Gleichzeitig verständlicher: Überschaut man die Unübersichtlichkeiten der Gegenwart, dann artikuliert sich ein geradezu dramatisches Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Viele sehnen sich nach einer Zeit, in der man noch scheinbar klar zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheiden konnte. In dieser Situation sollen Wissenschaftler das Chaos ordnen. Kommt es zu irgendeinem argumentativen Handgemenge, muss man nicht lange warten, und jemand zieht ein Trumpf-As aus dem Ärmel: „Wissenschaft! Wir folgen der Wissenschaft!“ Dieser Ruf signalisiert nicht erst seit Corona, dass es keine zwei Meinungen mehr gibt, man überhaupt keine Meinungen mehr hat, sondern die Wahrheit. Basta! Ende der Diskussion! Und nicht nur moralisierende Milieus sind anfällig für die Indienstnahme wissenschaftlicher Erkenntnis. Hinterfragen wir das Angebliche und betrachten aus den aktuellen Debatten einige Aussagen, die Forschung instrumentalisieren.

Das Ausblenden von Kontingenz

„Sprache prägt das Bewusstsein.“ Dieses Argument wird besonders gerne von einer winzigen Minderheit gendersensibler Eiferer ins Feld geführt, die einer schweigenden Mehrheit ihre Terminologie diktiert. Was sie verheimlicht: Es gibt mindestens ebenso viele Forschungen, die keine Einflüsse oder nur sehr schwache konstatieren. Auch wer sich bemüht, nicht in dieselbe behauptungsdespotische Falle zu tappen: Bewiesen ist hier nichts. Aber der journalistische Mainstream vergrößert das meinungsstarke Rinnsal, zieht es auf, hätschelt es.

„Gemischte Teams entscheiden besser.“ Diese Aussage wird auch nicht dadurch wahrer, wenn man sie in schamanischer Versenkung ständig wiederholt. Es wird nicht nur ignoriert, dass eine Entscheidung nur deshalb eine Entscheidung ist, weil Ungewissheit (nicht Unsicherheit!) ihre Bedingung ist - es mithin kein Paralleluniversum gibt, in der eine alternative Entscheidung geprüft werden könnte; eine Entscheidung kann insofern weder besser noch schlechter sein. Unterschlagen werden auch aktuelle Wissenschaftssynopsen, die zum Thema ein sehr uneinheitliches Bild zeichnen, das nur Einäugigkeit scharf stellt.

„Gewinn und Aktienkurs steigen, wenn eine Frau in der Geschäftsleitung ist.“ Es gibt, soweit ich sehe, genau zwei Studien mit diesem Ergebnis. Eine davon ist von Frauenverbänden finanziert. Die Datenbasis dieser Arbeiten ist (naturgemäss) dürftig; beharrlich wird Korrelation und Kausalität verwechselt sowie der Zufall ausgeblendet. Was interessierte Kreise nicht daran hindert, diesen Zusammenhang als völlig zweifelsfrei in die Welt zu setzen.

„Arbeitszufriedenheit macht produktiv.“ Das methodische Geschwurbel, auf dem diese Aussage sattelt, ist von unsäglicher Vorurteilshaftigkeit. Es gibt zudem keine einzige Studie weltweit, die einen kausalen Zusammenhang nachgewiesen hätte. Dieser Befund gilt jedoch ebenso für zarte Hinweise darauf, dass das Gegenteil gilt: dass Unzufriedenheit produktiver mache. Wer auch diese Möglichkeit zulässt, wird schnell gemassregelt: „Wenn du das ansprichst, spielst du den Falschen in die Hände“.

„Ökonomischer Erfolg ist planbar.“ Es gibt Studien, die nachweisen wollen, dass es unabweisbare wirtschaftliche Erfolgsrezepte gibt. Diese werden dann durch erfolgreiche Unternehmen (Apple, Tesla, Microsoft) illustriert. Ein alter Hut: Schon immer lebten weite Teile der Wirtschafts-„Wissenschaften“ vom Ausblenden der Kontingenz („ceteris paribus“). Übersehen wird zudem gerne, dass nur die Erfolgreichen ihre Geschichte erzählen. Und Sieger glauben nicht an Zufälle. Jedenfalls wurde noch kein Buch geschrieben mit dem Titel: „Wie ich mein Unternehmen an die Wand fuhr“.

Es gibt nicht „die“ Wissenschaft

Beim Verweis auf die Wissenschaft ist mithin Vorsicht geboten. Häufig werden Meinung und Wahrheitssuche, objektive Standards und volkserzieherische Zwecke verwechselt. Zu sehr wird „im Auftrag“ geforscht, zu sehr verwässern individuelle Reputations- und Finanzinteressen die wissenschaftsethischen Richtmasse. Wissenschaftsbasierte Meinung mutiert dann zur meinungsbasierten Wissenschaft. Und beim Konkurrenzkampf im universitären Milieu (Drittmittel, Finanzierung großer Forschungsvorhaben, BWL-Professoren als Unternehmensberater) hat die kühle Distanznahme schlechte Karten. Ganz zu schweigen von ärztlichen Studien, die durch die Pharmaindustrie finanziert werden. Man möge sich auch nicht mit Muskelschmerzen an einen Chefarzt wenden, der noch eine Hüftgelenkoperation braucht, um in die Bonusränge des Universitätsspitals zu kommen.

Aber selbst bei einer idealen akademischen Haltung „sine ira et studio“: Es gibt nicht „die“ Wissenschaft. Die Wissenschaft ist nichts Abgeschlossenes, was sich nicht mehr bewegt. Mehr noch: Keine Studie ohne Gegenstudie! Es wäre auch zu viel des Aufwandes, wollte man mit der Wissenschaft gegen die Wissenschaft argumentieren. Es muss reichen, darauf hinzuweisen, dass kein ernstzunehmender Wissenschaftler so etwas wie Irrtumsfreiheit oder gar Letztbegründbarkeit reklamiert. Er würde allenfalls von Brauchbarkeit sprechen. Und in der Logik der Forschung im Popperschen Sinne würde er die Bedingungen der Gültigkeit seiner Aussage angeben. Es gilt alles bis auf Weiteres! Eine grenzenlos gültige Aussage ist leer. Oder Esoterik.

Relevant in einem fundamentalen Sinne ist zudem Heideggers „Wissenschaft denkt nicht“. Wissenschaft ist blind für die Grundannahmen, auf denen sie ruht. Ferner ist sie vertikal extrem detailliert innerhalb der Zunft, horizontal-gesamtgesellschaftlich aber kaum verbunden. Auch kann sie vieles nicht wissenschaftlich beantworten, zum Beispiel Fragen der Würde oder des Sinns. Wissen ist etwas anderes als Gewissen. Und mag sich Wissenschaft noch so sehr mit Zahlen und Messungen schmücken: Wer viel misst, misst viel Mist. Es entsteht nur ein genaueres Bild des Scheins. Vor lauter Zählen vergisst man zu erzählen.

Grundsätzlicher noch: Ist Wirklichkeit überhaupt erkennbar? Die Quantenphysik hat uns die Augen geöffnet für die Tatsache, dass es keine Beobachtung ohne Beobachter gibt. Der Wissenschaftler kann die Wirklichkeit nicht direkt beobachten, sondern nur durch Messinstrumente, die den unbeobachteten Zustand stören. Die Reinigungsbemühungen, die in allen Erscheinungen das Notwendige zu erkennen versucht, müssen sich daher mit Wahrscheinlichkeit begnügen.

Sprache und Herrschaft

Der Verweis auf „Wissenschaft!“ ist jedoch nicht vorrangig ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern hat eine rhetorische Funktion im sozialen Tauziehen. Es geht um Macht. Das Zeigen auf Wissenschaft reklamiert ein parteiloses Externum, das Interessen leugnet. Pontius Pilatus winkt aus der Ferne. Das Programm: Keine Wahl! Der freie Wille dankt ab, versteckt sich hinter szientistischem Sachzwang.

Wer also Wissenschaftlichkeit reklamiert, will die Dinge festzurren, will, dass die Leute nicken, den Widerstand aufgeben. Weil die Dinge so sind, wie sie sind, eben „alternativlos“. Wissenschaft ist Wahrheit, und nur WIR haben privilegierten Zugang zu ihr. Das teilt nicht nur zwischen Wir und Anderen, sondern auch zwischen Vernunft und Verblendung. So leiht sich mancher das Schwergewicht der Wissenschaft, um von seiner leichten Meinung abzulenken. Dass er sich mit geliehener Autorität eher schwächt, übersieht er. Wäre er bei seiner Meinung geblieben, bei seinen Interessen – damit könnte man umgehen, das könnte man ausgleichen. So aber wird es unverhandelbar.

Die Modi der Demokratie

Der Wissenschaftsglaube rügt solche Überlegungen als Relativismus, der alles Überragende ins Egalhafte zieht. Was aber soll das Überragende sein? Das Göttliche? Das unabweisbar Tugendhafte? Die Menschenwürde? Das biologische Überleben? Das gute Leben? Was immer es sei, es eignet sich nicht als Basis einer offenen Gesellschaft, deren Grundsubstrat der Deutungskonflikt ist. Genau der aber ist gefährdet, wenn sich Szientismus in die Tiefenströme der Gesellschaft einsenkt. Vergleichbar mit der akademischen „cancel culture“ will die Behauptung von wissenschaftlicher Evidenz  vor allem vermeiden, dass Dissens und Widerspruch öffentlich thematisiert werden. In Deutschland forderte jüngst eine dekorierte Wissenschafts-Journalisten, man solle die Meinungsäußerungen der Virologen regierungsamtlich einschränken, um die Bevölkerung nicht zu verwirren.

Aus dieser Perspektive: Sind wir noch Bürger, die den wissenschaftlich grundierten Sachzwängen eine Idee des Andersmachens entgegenhalten? Gibt es noch andere Werte als die Verbeugung vor einer Autorität, die nicht mehr diskutiert, keine Alternativen und Mehrdeutigkeiten mehr zulässt und sich hinter Empirie, Zahlen und Expertentum verschanzt? Der Rückgriff auf die Wissenschaft hat das Potenzial, den Begriff des autonomen Individuums schleichend zu entkernen. Wissenschaftlich verbrämte Entscheidungen lassen sich keinem menschlichen Subjekt mehr zurechnen. Allenfalls noch einem statistischen Abhängigkeits-Automatismus. Sie bedienen jedoch die Angst vor der Freiheit, die Sehnsucht nach dem Ende der Mehrdeutigkeit, des Konflikts und des Streits – Modi der Demokratie. Wissenschaft legitimiert keine Demokratie. Das tut das Parlament. Sonst hätten wir einen Wissenschaftsstaat, der wie Platon vom Ende des Politischen träumt. Wenn dieser dann von Moralisierungen überformt wird, sind wir keine Gegner mehr, sondern Feinde. Carl Schmitt hätte seine Freude.

Applaus von der falschen Seite

Hier wie überall muss man mit Applaus von der falschen Seite rechnen. Die Einhegung naiver  Wissenschaftsgläubigkeit wird nicht verhindern, dass der Zweifel in seiner dümmsten Form auf die Strasse rennt – als Verschwörungstheorie, als „alternative facts“. Es ist nach amerikanischen Studien (Vorsicht!) egal, wie viele Menschen Zugang haben zu welchen Daten – sie legen sie ohnehin für ihre Interessen aus. Dennoch, auch wenn es die Harthörigen kaum erreichen wird: Es gibt keine alternativen Fakten, nur alternative Deutungen. Man kann noch so viel Wissenschaft, Zahlen und Studien auftürmen – was daraus folgt, bleibt dem Einzelnen überlassen. Die bedeutungsgebende Instanz ist der Mensch. Er wägt ab, setzt in Beziehung, urteilt. Auch wenn er weiss, dass es nur ein Ur-Teil ist, eben ein Teil des Ur-Zusammenhangs. Niemals die Wahrheit. Also: Wir sollten uns unsere Freiheit nicht wegvernünfteln lassen von einer interessegeleiteten Präsentation von Wissenschaft. Skepsis ist notwendig, Zweifel auch, Misstrauen nicht, Wurschtigkeit schon gar nicht. Soviel Differenzierung kann man dem Normalmenschen zutrauen. Die Wissenschaft war und ist stolpernde Wahrheitssuche. Nicht Wahrheitsfinden.

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