Ach, die Werte – kleiner Versuch zur Entwirrung eines inflationären sprachlichen Geschwurbels

Ach, die Werte – kleiner Versuch zur Entwirrung eines inflationären sprachlichen Geschwurbels

Der Gebrauch des Wortes «Werte» hat Dauerkonjunktur. Dabei handelt es sich um eine Leerformel, die darum so gut passt, weil sie so distinkt klingt und doch weitgehend bedeutungsfrei ist. Nicht selten werden dadurch in aggressiver Weise handfeste Interessen kaschiert.

Überall werden sie verteidigt – in der Ukraine, in Katar, beim G-20-Gipfel in Indonesien oder beim Kampf um kulturelle Aneignung: die Werte. Ursprünglich gab es sie nur im Singular und entstammten sie der ökonomischen Sphäre (ein Schwein wurde wert-geschätzt). Im frühen 18. Jahrhundert aber wanderten sie in die Moralphilosophie ein, pluralisierten sich dort und treiben seitdem ihr Wesen beziehungsweise ihr Unwesen als Knüppel-aus-dem-Sack der politischen Auseinandersetzung.

Jetzt gibt es die «westlichen» Werte, die etwas kleineren «europäischen» oder auch rhetorisch geschwollene: «Christliche Werte» und «Abendland» sind ein Traumpaar. Und sie stehen offensichtlich in der Defensive, sonst müsste man sie nicht verteidigen. Welche Werte genau gemeint und wie sie zu operationalisieren sind, ist nicht immer ganz klar. So fordert man im Kampf um Rastalocken und indigene Teppichmuster den «Respekt» gegenüber dem kulturell Anderen. Bei der WM in Katar hingegen kann man sich zu genau diesem Respekt nicht durchringen.

Umgegossene Interessen

Wollen wir das Wert-Geschwurbel entwirren, müssen wir zunächst die basale Operation der Sprachverwendungsstrategie erkennen: Interessen werden in Werte umgegossen. Denn wer Interessen hat, führt offenbar nichts Gutes im Schilde; wer Werte hat, schon.

Es gibt daher in modernen Gesellschaften kein politisches Interesse, das nicht im Namen des allgemeinen Besten auftritt, mag es jenseits aller Rhetorik noch so partikular sein. Deshalb werden technische, wissenschaftliche und ökonomische Probleme gerne zu Wert-Fragen umgedeutet. Bisweilen stellt man Werte sogar über das Recht – siehe die Diskussion um selbstklebende Klimaaktivisten. Oder man hat klare strategische Interessen, maskiert sie aber mit Zugehörigkeit zu einer «Wertgemeinschaft» – wahlweise der Europäer, der Russen, der Menschenrechtler oder gar der Zivilisierten.

Ein weiterer Nutzen der Werte-Verwertung ist Dialog-Vermeidung. Über Interessen kann man verhandeln, über Werte nicht.

Der unbestreitbare Vorteil dieses Kniffs: Interessen können gleichzeitig vernebelt wie sprachlich geadelt werden. Das immunisiert. Wer will schon gegen Werte das Wort erheben? Mit imperialistischer Spitze: Wer möchte, dass der andere seine Interessen übernimmt, nennt sie Werte. Meine Interessen seien deine Werte!

Im Windschatten von Werten kann man mithin Ansprüche anmelden, ohne sie begründen zu müssen. Womit ein weiterer Vorteil verbunden ist: Man kann darauf verzichten, das oder den jeweils anderen als explizit böse zu etikettieren. Es reicht, sich zu den eigenen Werten zu bekennen.

Implizit jedoch bewertet man die eigenen Werte als höherstehend, die Werte der anderen als minderwertig. Man setzt herab – denn niemand kann werten, ohne abzuwerten. Das zeigt die ganze Verwirrung der Wert-Argumentation, die fortwährend neue Hierarchien aufwirft, immer in der Absicht, dem anderen heimlich oder offen den Vorwurf zu machen, dass er offensichtliche Werte nicht sehe oder nicht beachte. Folglich schätzen wir den Umgang mit Menschen, die offen zu ihren Werten stehen – vorausgesetzt, sie haben dieselben wie wir.

Von «Gerechtigkeit» entflammt

Womit ein weiterer Nutzen der Werte-Verwertung deutlich wird: Dialog-Vermeidung. Über Interessen kann man verhandeln, über Werte nicht. Die kann man nur konstatieren, sie sind alternativlos, behaupten absolute Gültigkeit. Sie postulieren ein Menschenbild, das so glatt ist wie die Smartphone-Oberflächen. Widersprüche, Ausweglosigkeiten, Paradoxien, all das, was die Menschen und ihr Zusammenleben ausmacht, hat darin keinen Platz. Indem man Dilemmata ausschliesst, glaubt man, auch ihre Realität würde verschwinden.

Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Nicht nur müssen wir anerkennen, dass es auch andere (etwa «nichtwestliche») Werte gibt; nicht nur zeigt die Erfahrung, dass sie keineswegs Zusammenhalt erzeugen, sondern nicht selten Unruhestifter sind: Welcher Fanatismus wurde nicht schon durch «Gerechtigkeit» entflammt! Werte sind auch in sich nicht eindeutig.

Lässt man Extreme wie Grausamkeit oder Terror beiseite, dann gibt es keinen Wert, der nicht durch einen Schwesterwert begleitet wird, der ebenso berechtigt ist. Gleich-gültig eben. Beispiele kennt jedermann zur Genüge: Verschwiegenheit ist so wichtig wie Offenheit, Entschiedenheit genauso wie Nachdenklichkeit, Handeln ebenso wie Zurückhaltung. Und ist Misstrauen nicht immer dort am Platz, wo Vertrauen Dummheit wäre?

Jeder Wert gewinnt Kontur nur gegenüber einem konterkarierenden Wert. Auch Freiheit und Zwang brauchen einander, sind aber nicht in Übereinstimmung zu bringen. Wir kommen einfach ohne den Gegen-Wert nicht aus. Der Verlust des einen ist der Gewinn des anderen. Der Rekurs auf Werte ist daher eine Sehschwäche, die die Mehrdeutigkeit der Welt negiert. So wie sich der Westen beharrlich mit der Menschheit verwechselt.

Nun gibt es eine massive gesamtgesellschaftliche Sehnsucht nach dem Ende der Mehrdeutigkeit. Sie äussert sich als Populismus, Purpose-Mythen oder behauptete Alternativlosigkeit. Und eben als Proklamation schein-eindeutiger Werte. Niklas Luhmann würde sagen: Man flieht aus der Komplexität in den vorreflexiven Konsens. Das funktioniert aber nur kurzzeitig. Denn prompt meldet sich die andere Seite zu Wort. Wert-Entscheidungen haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, dass die Alternative nicht nur abgelehnt wird; sie wird auch sichtbar.

Überdeutlich zeigt sich das Ausgeschlossene. Unerfreulicher noch: Die Entscheidung «baut den Gegner auf». Oft genug wird durch die Wert-Proklamation gerade nicht die gewählte Alternative gestärkt, sondern die nichtgewählte. Die springt uns gleichsam täglich auf den Tisch. Das Liegengelassene rebelliert, es will zurück in den Verkehr, erhebt sich wie Aufständisches aus unterirdischen Verliesen. Die Mechanik des Konflikts: Wenn du nicht so drücken würdest, müsste ich nicht so drücken.

Affirmation als Negation

Der aggressive Charakter der Werte-Verwertung zeigt sich mithin in zweierlei Hinsicht: Erstens ist Affirmation immer Negation, und die Parteinahme für die eine Seite einer Wertpolarität diskriminiert den Schwesterwert, der von gleichermassen gültiger Bedeutung ist. Zweitens entfaltet jedes Wertdenken die Tendenz, einen geringer eingeschätzten Wert abzuwerten. Was bei der notwendig subjektbezogenen Trägerhaftigkeit des Wertverständnisses zwangsläufig zu Konflikten führt. Denn es sind Menschen, die ihnen Geltung verschaffen.

Es sind also die Werte, die die Menschen zu Gegnern machen. Die offenbar den Wert eines Werts nicht sehen – dabei bevorzugen sie nur den Gegen-Wert. Jeder Krieg wird dann zum «gerechten» Krieg. Diese immanente Aggressivität ist die fatale Paradoxie der Werte.

Das Schwingen der Werte-Fahnen ist ein Rückfall von den philosophisch erklommenen Stufen aufgeklärten Denkens. Denn angesichts der vielen moralischen Zielkonflikte ist ein Leben mit weisser Tugendweste eine Unmöglichkeit. Wir sollten daher nicht eine Klarheit vortäuschen, die wirklichkeitsfremd ist. Sondern über Interessen sprechen. Sie lassen sich in der Regel ausgleichen. Lauschen wir zudem dem Strom unserer Erfahrungen – wir werden in seiner Mitte spüren, dass es auf beiden Seiten gleich weit zum Ufer ist.

 

 

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